8.9.17

Das cor incurvatum und das Virtuelle

Das in sich gekrümmte Herz

Dass Luther die Figur vom cor incurvatum von Augustin wieder entdeckte, gehört zu dem Wunderbarsten der Theologie der Reformation. Das Bild eines Herzens, das sich so zusammenkrümmt, dass es nur sich selbst sieht und sehen kann (nicht umsonst ist es das in se, was noch dazu gehört), ist die mich vielleicht am stärksten berührende Beschreibung eines Lebens fern von Gott. Es beschreibt nicht nur Egoismus, sondern diesen sich im eigenen Leid suhlenden oder im eigenen Glück badenden Menschen, der Hoffnung, Trauer, Mitleid nur aus sich selbst kennt und auf sich selbst bezogen sieht. Das "und was ist mit mir"-Rufen, das Gefühl, immer die zu sein, die zu kurz kommt, ist das eigentliche Zeichen von Gottesferne. Der Neid, der entsteht, wenn Menschen mit in sich gekrümmtem Herzen ihrer Mitwelt begegnen, ist das, was ich "der Teufel" nenne. Der Hass auf die, denen so ein Mensch begegnet, auf die, von denen der Mensch zu sehen glaubt, dass sie alles bekommen, was er nicht bekommt, dass sie ihm alles wegnehmen, dieser Hass ist im Kern ein Hass auf Gott.

Die große Erkenntnis hinter dem cor incurvatum ist doch, dass ein Mensch, der sich – die Philosophie würde sagen: solipsistisch – nur auf sich selbst bezieht, gefangen ist und nur durch Gott befreit werden kann. Nur durch Glauben "gerecht" werden kann. In christlichem Kontext jetzt, klar. Aber dass dieser Mensch eben auch befreit werden muss. Oder sich selbst befreien muss. Dass es unbarmherzig ist, diesen Menschen nicht damit zu konfrontieren, dass er dem Teufel aufgesessen ist. Wir haben im (europäischen) Luthertum schon lange keine Tradition des Exorzismus mehr (und das ist unglaublich gut so, denn das, was damit an Schindluder getrieben wurde und teilweise noch wird von den Kirchen und ihren Pfaffen, ist ein Verbrechen), aber neu über diese Frage nachgedacht, ist eine Handlung, die Menschen ohne falsche Rücksicht auf die Verkrümmung ihres Herzens rüttelt und schüttelt und aufrichtet, die einzige, die aus Barmherzigkeit kommt, finde ich. Eine Handlung, die kein Verständnis hat sondern klar benennt, wo das Böse ist.

Ob die eitle Einsamkeit des cor incurvatum Symptom oder Ursache ist, weiß ich nicht. Dass sie überwinden muss, wer leben will, glaube ich.

Das Virtuelle

In konservativen Kreisen meiner Kirche, auch in links-konservativen, wie unlängst am Reformationsmoratorium von Schorlemmer und Wolff zu besichtigen, wird die existenzielle Einsamkeit und Gottesferne des cor incurvatum heute gerne mit der scheinbaren Vereinzelung von Menschen in heutigen digitalen Netzwerken beschrieben:
Das „Selfie“ mit dem iPhone steht für die zunehmende und alleinige Konzentration des Menschen auf sich selbst. Von Kindesbeinen an daran gewöhnt, führt das zu einer inneren Vereinsamung, lässt menschliche Beziehungen verkümmern und den realen Nächsten zugunsten des virtuellen aus den Augen verlieren.
So schreiben Schorlemmer und Wolff in einem ansonsten überwiegend eher lesenswerten Text. Knut Dahl-Ruddies sagt dazu ein bisschen was.

Da ist er.
Der Schrecken.
Aller, die Nähe nur aus der Kohlenstoffwelt zu kennen glauben.
DAS VIRTUELLE.
Das, was ich nicht berühren kann, wo ich keine Stimme, keine Mimik habe. Wo wichtige Dimensionen der Kommunikation und der Nähe und der Intimität fehlen.

Da sprechen sie wie die Verächterinnen der Religion. Die es absurd finden, dass ich eine lebendige Beziehung zu Gott habe. Dass ich im Gebet in ein Gespräch mit Gott trete. Dass wir bei der Feier des Abendmahls davon überzeugt sind, dass Jesus anwesend ist, dazu tritt, ganz, nicht nur in unseren Gedanken.

virtuell, sehr


Wer das Virtuelle gering schätzt, kann eigentlich keine Christin sein. 

Wirklich nicht. Denn seit Himmelfahrt ist unser Glauben und vor allem unsere Glaubenspraxis sehr wesentlich von einer virtuellen Beziehung geprägt. Vom Ende der kohlenstofflichen Nähe dessen, von dem wir glauben, dass er ganz Mensch und ganz Gott ist. Und der doch nah bleibt und Generationen nah gewesen und geblieben ist.

Wer wenn nicht Christinnen und Christen sollte verstehen, dass Nähe und Intimität nicht auf den Kanal ankommt, auf dem Kommunikation und Gemeinschaft stattfindet? Wer hat so sehr über Jahrhunderte geübt, mit virtuellen Freundinnen und Freunden zusammen zu sein. Und wer wüsste so gut wie Christinnen und Christen, dass weder eine Gemeinschaft von Menschen in der Kohlenstoffwelt noch eine einsame Gemeinschaft mit einem oder einer, die virtuell da sind, ausreichen für die Fülle des Lebens. Dass ich einsam und in mich gekrümmt sein kann, ob ich unter Menschen in der Kohlenstoffwelt bin oder nicht. Dass sogar Menschen zusammenstehen und sich aneinander berauschen können, wenn sie vom Teufel besessen sind und ein in sich selbst gekrümmtes Herz haben. Wie in Finsterwalde und anderswo.

Das Virtuelle gegen das cor incurvatum

Wo das "Selfie" nur auf sich selbst zeigt, wo es nur um mich geht, wo ich meine Einsamkeit durch leere Inszenierung zu übertünchen suche und doch auf mich selbst zurück geworfen bin, da ist es Ausdruck der furchtbaren Entfremdung vom Leben und von Gott. Aber das hat nichts mit dem Virtuellen zu tun. Denn das hatte auch die Stiefmutter von Schneewittchen schon.

Im Gegenteil – wo das "Selfie" der Beginn einer Interaktion mit anderen wird, wo ich Antworten bekomme wie "du Schöne", "HDL" oder "Beste", da trete ich im besten Fall heraus aus meiner Verkrümmung. Denn Liebe und affirmative Kommunikation helfen fast immer, wenn der Teufel Neid oder der Teufel Hass mein Herz verkrümmen. 

Und so, wie für einige von uns Christinnen und Christen kurze, über den Tag verteilte, Kommunikation mit dem Virtuellen dem Tag Rhythmus geben, ohne jedes Mal von besonderer und besonders tiefer Substanz zu sein, wie wir "Danke" sagen für Kleinigkeiten – und die Wärme der Gemeinschaft spüren, so kann, wenn es gut läuft, auch in anderen virtuellen Kommunikationen sein. 

Bleibe bei mir, sagen wir. Und meinen das nicht kohlenstofflich.
In deinem Namen, sagen wir. Und wissen, dass es auch anderswo so ist.
Wir läuten die Glocken, wenn wir das Vaterunser beten, damit andere einstimmen können, die nicht hier sind. Hier, im kohlenstofflichen Sinne.

Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, lernen wir. Und das soll ausgerechnet dann nicht gelten, wenn es Gemeinschaft und Kommunikation gibt, die wir nicht verstehen? Die ihr nicht verstehe, nicht nachfühlen könnt? Es tut mir leid, Friedrich und Christian, liebe Brüder, das kommt mir sehr arm vor. Und sehr kleingläubig. Zumindest von dir, Friedrich, habe ich es anders erwartet. Denn du warst für mich ein wichtiger Lehrer für Glauben im Leben.

1 Kommentar:

  1. Anonym6.12.17

    Ich glaube nicht, dass "das Virtuelle" für die Herren ein Problem ist. Ich glaube, dass sie als ältere Semester (zu denen ich auch gehöre:) nicht wirklich verstehen, was im Virtuellen an Kommunikation läuft. Vor allem aber verunsichert der Kontrollverlust, der im Netz stattfindet. Schorlemmer/Wolff erklären Kirche und Welt gerne, wie Evangelium wirklich geht. So aber funktioniert das Netz nicht. Und ich denke, so funktioniert auch die Kirche der Zukunft nicht.

    Viel besser finde ich die Reaktion von Ilse Junkermann auf das Jubiläum in den letzten zeitzeichen (leider nicht öffentlich zugänglich, deshalb jetzt ein längeres Zitat): „Wenn wir die Mauern von Kirchengebäuden und Gemeindehäusern verlassen und auf Straßen und Plätze hinausgehen, dort an gedeckte Tische einladen, ohne weiteres Programm – dann kommen überraschend viele Menschen. Und es entspinnen sich Gespräche über Grundfragen des Alltags und des Lebens. Jeder und jede ist Experte. Wo wir öffentlich einladen und uns mit anderen Gestaltern der Zivilgesellschaft zusammentun, wo wir gemeinsam feiern, wo wir Glaubensthemen aus der Öffentlichkeit aufnehmen, ist die Gefahr gebannt, den Blick allein auf dem Fortbestand und die Bedeutsamkeit von Kirche zu verengen. Wer in die Augen des Bruders, der Schwester schaut, weiß, was zu tun ist. Hier finden wir Auftragsklarheit. Und neue Horizonte für unsere Abendmahlspraxis.“ Das lässt sich, denke ich, leicht von der Kohlenstoffwelt ins Virtuelle übertragen.

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