27.1.15

Lauf, Junge, lauf

Er wollte eigentlich dringend die Schule wechseln. Zwar würde er in einer größeren Klasse nicht zwingend den Ersten Schulabschluss schaffen, aber alle anderen, die sich jetzt, als Jugendliche, ihrer Religion zuwenden, gehen rüber an eine der Schulen in Lohbrügge. Sein Cousin würde da auf ihn aufpassen und ihm helfen.

Auch, wenn er in den letzten beiden Jahren, seit er erwacht ist, wie er es wahrscheinlich nennen würde, von seiner Klassenlehrerin immer direkte und sehr klare Ansagen bekommt (und er sie mag und respektiert, ja wirklich, Respekt kommt ihm dabei über die Lippen, verwunderlich genug, sie ist ja eine Frau), weiß er doch, wer an allem Schuld ist. Auch wenn er es (wohl eher aus Rücksicht auf die Lehrerin als aus Überzeugung) seltener und nur noch sehr selten ungefragt und zu jeder Gelegenheit in die Klasse ruft. Schuld daran, dass seine Familie Afghanistan verließ. Daran, dass der Islam überall unterdrückt wird. Weshalb es sein Weltbild bereits leicht ins Wanken brachte, sozusagen einen winzigen Haarriss zeitigte, als es kein Problem darstellte, dass er in der Mittagspause in der Schule im Gruppenraum der Klasse beten wollte. Was er seitdem machte.

Die Juden sind Schuld. Und Israel sowieso, diese Eroberer und Unterdrücker. Davon ist er fest überzeugt.

***

Im letzten halben Jahr war in Geschichte das Thema ein Thema, das so viele nervt. Von dem ich immer wieder höre, dass es zu viel, zu oft, zu pädagogisch behandelt werde. Dass alle Schülerinnen dauernd darüber reden müssten würden. Seine Geschichte aber zeigt, dass wir nicht oft genug über den Holocaust und die deutsche Vernichtungsmaschine reden können.

Im letzten Halbjahr sind viele Schulklassen in Lauf, Junge, lauf gegangen. In Hamburg haben die (kleineren) Kinos den Film an den Schulfilmtagen gezeigt. Und obwohl seine Lehrerin den Film mit der Klasse vorbereitet hat und das Thema schon länger im Unterricht dran war, traf ihn der Film völlig unvorbereitet. Und hat ihn erschüttert.



Ausgerechnet ein Jude. Es war völlig verstörend, dass ausgerechnet ein jüdischer Junge etwas erlebt, das er fast für seine Geschichte halten könnte. Sein Zorn und auch wirklich sein Mitgefühl galten dem Jungen.

Er hatte noch nie darüber nachgedacht und noch nie davon gehört. Noch nie, obwohl er ja nun auch schon sechzehn ist, hier geboren wurde und in dieses Land gehört. Obwohl angeblich dauernd und viel zu viel davon in der Schule und in Medien die Rede sei.

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Er wurde stiller. Seit dem Vormittag im Passagekino, damals, im Spätherbst, hat er nicht ein einziges Mal in der Klasse über die Juden, die an allem Schuld seien, schwadroniert. Nicht noch einmal den Schulwechsel angesprochen. 103 Minuten, die sein Leben verändert haben.

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Ich denke, wir können nicht oft genug vom Holocaust reden und von den Verbrechen, die die Deutschen in ganz Europa begangen haben, dem Preis für den Aufstieg des "kleinen Mannes" in der deutschen Gesellschaft.

In meiner Kindheit war es Ein Stück Himmel, für die Generation meiner Kinder ist es Lauf, Junge, lauf. Immer wieder ein eindringliches Stück aus der Opferperspektive, das einen Perspektivwechsel ermöglicht.

Bundesarchiv Bild 146-1993-020-26A, Lidice, Ort nach Zerstörung Für mich persönlich waren es die Reise nach Lidice und das Bild Guernica, die mich so tief erschüttert und beeindruckt haben. Für den Jungen war es der Vormittag im Kino. Aber ein auch emotional erschütternder Moment, davon bin ich überzeugt, muss sein und kann sein und kann allen zugemutet werden.

Denn allein die Fakten, allein die Wahrheit, bewegt jemanden wie diesen Jungen nicht. Andere schon, die es zornig macht, beides ist wichtig. Beides ist gut. Wichtig ist nur, dass es zu einer Veränderung führt.

Ich bin überzeugt, dass allein die tiefe Fassungslosigkeit oder Scham die Monstrosität des Holocaust erahnen lässt. Denn er ist mit Worten und Bekenntnissen und Schilderungen nicht zu erfassen. Und es kann und darf niemals einen Schlusstrich geben.

Was mir die kleine Episode mit dem Jungen vor allem zeigt, ist, dass es richtig ist, den Holocaust auch in der Schule, abseits der Pfade der eigenen Familie und des eigenen direkten Umfeldes, immer und immer wieder und immer wieder neu und anders zu behandeln. Denn Kinder, junge Jugendliche und ältere Jugendliche haben verschiedene und sich verändernde (emotionale) Zugänge zu diesem Thema. Es ist nie zu früh für die Fassungslosigkeit. Und nie zu spät.

Und wenn nur ein Judenhasser in seiner Haltung und Überzeugung erschüttert wird, hat es sich gelohnt.

22.1.15

Staatsterrorismus

Vor etwas mehr als einem Jahr schrieb ich, dass eigentlich nur ein Fanal fehle, um die grummelnde Unzufriedenheit in handfesten Widerstand zu transformieren. Wer hätte gedacht, dass dieses Fanal nun eher den Notstandsgesetzen als dem Mord an Ohnesorg gleicht.

Landgericht-frankfurt-2010-ffm-081

Wenn nun - und die Bundesregierung stimmt dem ausdrücklich zu - Überlegungen aus der EU kommen, faktisch die Verschlüsselung von Kommunikation zu verbieten (denn aus meiner Sicht ist es genau das, wenn für den Staat Hintertüren eingebaut werden müssen in jede Verschlüsselung), dann kann es dieses Fanal sein.

Einmal zum Mitschreiben: Der Bundesinnenminster, der von einer Koalition aus CDU, CSU und SPD getragen wird, fordert die Abschaffung von Grundrechten.

Meiner Meinung nach wäre ein Verschlüsselungsverbot Staatsterrorismus. Denn eine Regierung, die verhindert, dass ihre Bürgerinnen sich unbelauscht unterhalten, ist ein Terrorregime. Und ein Staat, in dem Verschlüsselung verboten oder das Briefgeheimnis abgeschafft ist, ist ein Unrechtsstaat.

Gegen die Abschaffung von Grundrechten fordert unsere Verfassung ja ausdrücklich den Widerstand.

Über viele Punkte rund um Sicherheit und Freiheit können wir diskutieren. Selbst über die Vorratsdatenspeicherung, das Lieblingskind der konservativen Placebopolitik, können wir reden. Da sind diejenigen, dich sich für Bürgerinnenrecht stark machen, zwar einig (in der Ablehnung), aber das ist eine politische Frage.

Die Frage, ob ich (selbst wenn ich persönlich es zurzeit nicht tue) meine Kommunikation verschlüsseln und damit privat halten kann, ist aber keine politische. Wenn die Regierung dieses verhindert, überschreitet sie eine Linie. Und dies ist die Linie, die aktiven und realen Widerstand rechtfertigt. Dann sind Worte und Bilder am Ende. Sie helfen nicht mehr.

Noch ist es nicht so weit. Aber vor allem Sozialdemokratinnen sollten sich bewusst sein, dass es wirklich ein Treppenwitz der Geschichte wäre, wenn wieder eine von ihnen ungeliebte große Koalition den Funken in das Pulverfass wirft.

13.1.15

Bildungsfernes Schichten

Jugendliche müssen so was sagen. Wirklich. Sonst liefe was falsch. Keine Kritik also, kein Erheben, kein mildes Lächeln von meiner Seite. Wirklich nicht.
Komisch und verquer wird es, wenn das aber Erwachsene begeistert aufnehmen und wenn deren "Medien" das zum Tweet des Tages erklären.

Es erinnert mich an so ziemlich jede Diskussion über Bildung und Schule, die ich mein Leben lang geführt habe. Bereits ganz großartig während der Schulkämpfe in den 80ern in Hamburg - gipfelnd im legendären Streitgespräch unseres stramm Stamokap geprägten Vorsitzenden der SchülerInnenkammer (so hieß die damals) mit Gerhard Meyer-Vorfelder ("MV"), dem damaligen Schulminister in Baden-Württemberg, der sich im Fernsehen zu der Aussage verstieg, die Masse der jungen Leute brauche nur führerscheinähnliche Kenntnisse, wenn sie die Schule verlasse.

Steuern, Miete, Führerschein - klassisches rechtskonservatives Schulziel für die Masse - während die Gedichtsanalyse den wenigen Kindern der Professoren und Ärzte vorbehalten sind, denn wer braucht so was schon.

Call me Bildungsbürger, aber ich finde es großartig, dass wir da heute weiter sind. Mich hat, zumal ich eben gerade nicht aus Arbeiterinnenfamilien stamme sondern aus einer Mischung von Akademikerinnen und Kleinbürgerinnen, die emphatische Kritik am reaktionären Antiintellektualismus heutiger Pseudoeliten sehr berührt, die Georg Seeßlen im Oktober in der Konkret schrieb. Lest die mal, wirklich.

Wo wenn nicht in der Schule, wenn sie nicht aus falsch verstandenem ökonomischen Druck gehetzt und nur auf Anwendungswissen getrimmt ist, kann ich so zweckfrei und nur aus intellektueller Maniriertheit etwas wie Gedichtsanalysen machen? Wo kann ich, nachdem das akademische Studium durch den Bolognaprozess kastriert und auf Linie gebracht wurde, noch denken lernen.

Das macht vielen Jugendlichen keinen Spaß. Aber selbst wenn ich jetzt wie der alte Sack klinge, der ich bin: Selbst die, die sich darüber mokieren, während sie sich aus schicker Langeweile oder tatsächlichem Desinteresse in der Nase popeln oder ihre Haare durch den Mund ziehen, profitieren langfristig davon.

Steuern, Miete, Versicherungen. Lineare Algebra sogar (obwohl ich erst entsetzt war, dass das ins Studium ausgelagert wurde). Das Leben, die Berufsschule oder der Vorkurs an der Uni sind auch noch da.

Mich gruselt es vor Leuten, die die Schule von ihrem Bildungsauftrag befreien und ihr einen Ausbildungsauftrag verpassen wollen. Denn sie verfolgen eine Agenda. Und die ist bestenfalls reaktionär.

10.1.15

2015: Das sind die großen Trends in der Kommunikation

I. Wenn PR und Unternehmenskommunikation sich schlau anstellen, werden sie 2015 das Thema "digitale Transformation" in den Unternehmen treiben können. Das Thema liegt da, es muss nur aufgesammelt werden.
2014 war „digitale Transformation“ in aller Munde und in allen Blättern. Jetzt wird es Zeit, dieses Thema in den Unternehmen strategisch und praktisch zu treiben. Neben den Prozessen und dem, was unter dem Stichwort „Industrie 4.0“ diskutiert wird, ist die Kommunikation dabei entscheidend. Interne und externe Kommunikation werden entscheiden, ob die digitale Transformation gelingt. Die PR bekommt dabei eine entscheidende Rolle und kann die Aktivitäten zusammen binden.

Erfolgreich werden die Abteilungen und Agenturen sein, die hier mit Selbstbewusstsein und Kompetenz vorgehen und zeigen können, dass sie das Thema und die Anforderungen der digitalen Transformation verstanden haben.

II. Im Content Marketing wird das Pendel wieder etwas zurück schlagen zu Medien, die dichter an den Marken und Unternehmen sind. Turn-on und Curved sind soooo 2014. Spitzere, klarere, transparentere Magazine werden der Trend sein.
In der Anfangseuphorie von Content Marketing sind viele Ansätze entstanden, die wenig sinnvoll erscheinen und bei denen niemand zeigen kann, was sie auf die Kommunikations- oder gar Unternehmensziele einzahlen. 2015 wird das Jahr sein, in dem eine Idee nicht allein deshalb gekauft wird, weil Content Marketing draufsteht.

Im Gegenteil: eine Rückbesinnung auf klare Botschaften und klare Kommunikationsziele wird einsetzen. Die Inhalte und Onlinemagazine werden sich weiter ausdifferenzieren. Mehr vom Gleichen ist einfach kein erfolgversprechendes Konzept. Und einfach nur neues Inventar zu schaffen, in dem ich mich dann selbst vermarkte (anstatt das in bestehendem Inventar zu tun), wirkt auch nicht wirklich wie ein wirtschaftlich überzeugendes Konzept.

III. Die PR wird wieder journalistischer werden, während die Werbung stärker auf PR-Mechaniken setzt. Beides getrieben durch die jetzt abgeschlossene Digitalisierung der Kommunikation.
Seien wir ehrlich: die Digitalisierung der Kommunikation ist durch. Darüber müssen wir nicht mehr reden. Ja, es gibt noch ein bisschen Übergangsschmerzen bei der einen oder anderen, aber im Grunde wissen wir alle, wo es lang geht. Und während sich in der Übergangszeit alle Kommunikationsdisziplinen einander annäherten, werden sie 2015 beginnen, sich wieder auszudifferenzieren.

PR wird wieder erkennbarer werden und sich wieder auf ihre Stärken besinnen, die sie im Kommunikationsmix einzubringen hat – so wie sich Performance-Marketing und Community Engagement wieder auf ihre eigentlichen Stärken besinnen werden. Auf eine Zeit der Konvergenz in den Disziplinen folgt jetzt eine Zeit der Zusammenarbeit, in der wir Kommunikatorinnen und Kommunikatoren zwar Hand in Hand arbeiten, aber unsere jeweiligen besonderen Expertisen besser einzubringen wissen. Das Hauen und Stechen um das „Digitale“, das die letzten Jahre bestimmte, ist vorbei. Denn es ist in allem.

IV. Wearables werden der große Flop 2015 sein, 3D-Drucker der große Hit. Wir werden die ersten Kampagnen sehen, die damit arbeiten, dass in den Haushalten mehr und mehr 3D-Drucker stehen.
Google Glass war der größte Flop des Jahres 2014. Im kommenden Jahr wird der gesamte Bereich der Wearables durch sein. Zwar werden immer mehr Elemente unserer Kleidung und unserer „Körperperipherie“ miteinander digital kommunizieren – aber die Hoffnung auf neue Userinterfaces mit dem Netz, die eine Erweiterung des Körpers darstellen, trügt. Es ist kein Zufall, dass die Wearables wie die Inkarnation von Science Fiction Visionen der 60er wirken. Und darum auch kein Zufall, dass sie jetzt, wo es geht, ausprobiert wurden. Sie werden aber floppen.

Die Kommunikation ist gut beraten, statt auf Spielkram und Wearables zu setzen, den Trend zu umarmen, dass 2015 3D-Drucker den Massenmarkt erreichen. Noch lange bevor sie wirtschaftlich produktiv sind, bieten sie schon jetzt spannende Ideen für Kommunikation und Interaktion von Menschen mit Marken und Produkten.

V. Ephemeral Media werden DAS große Trendthema in der digitalen Kommunikation sein (Yo, Snapchat und Co).
Die mit großem Abstand spannendsten neuen Interaktionskonzepte sind in den letzten Jahren im Bereich von Ephemeral Media (flüchtige Medien) entstanden. Schrieb ich gerade was zu. Yo und Snapchat haben massiv in Funktionen investiert und bilden ein neues Ökosystem für die Kommunikation mit jungen, mobilen Zielgruppen. Musik, Informationen, Lokalisierungsdienste – all das kombiniert mit der Flüchtigkeit der Äußerungen stellt die Kommunikation vor neue Herausforderungen. Gerade der Schritt von Snapchat in Bezahlfunktionen, Musikservices und Co zeigt, wo das Potenzial von nicht in der Suchmaschine indizierten Inhalten liegen kann.

Mit Ephemeral Media entsteht nach dem Such-Web und dem Facebook-Web der dritte Kosmos digitaler Onlinekommunikation. Wer in Ephemeral Media 2015 punktet, ist innovativ und vorne dabei. Darum werden sich Agenturen überschlagen mit kreativen und abgedrehten Ideen für dieses neue Spielfeld.

5.1.15

Ephemeral Media


Rund um die Frage, was denn jenseits von Facebook noch so existiert, beschäftige ich mich schon lange mit Ephemeral Media. Inzwischen sind die so weit, dass sie ein eigenes Ökosystem bilden und eine große Rolle im Alltag vieler Menschen spielen.
Kurz vielleicht zum Begriff und so: ephemeral meint so etwas wie flüchtig, vergänglich. Unter Ephemeral Media verstehen wir also solche Netzwerke und medialen Äußerungen, die eben dies sind - flüchtig und vergänglich. Lustigerweise in der Regel nicht TV oder Radio (obwohl die zumindest in Deutschland ja auch oft vergänglich sind) - sondern eher digitale Medien, die nicht auf Dauer gedacht sind. Snapchat (nur kurz sichtbare Medieninhalte) oder Yo (nur kurze Lebensäußerungen) sind Beispiele von Apps, die in diesem Bereich aktiv sind.
In den ersten Jahren sind Ephemeral Media unterhalb des Radars geflogen. Wie so viele Dinge erst einmal als Experiment in eher jugendlichen Kontexten. Snapchat beispielsweise war relativ früh unter vielen Jugendlichen populär, die ich in unseren Speckgürteln traf. Erst bei Mädchen, dann bei Jungen, wie oft bei Dingen, die mit Technologie und Kommunikation zu tun haben.

Die Flüchtigkeit der eigenen Äußerungen und auch der der anderen spiegeln ein Bedürfnis wider, das nicht nur Jugendliche haben sondern das auch in den Medien und bei Erwachsenen in den letzten Jahren viel diskutiert wurde: Das Bedürfnis nach so etwas wie einem digitalen Radiergummi. Nach Kommunikation, die nicht für alle anderen auffindbar ist und auch für die, mit denen ich rede, nicht durchsucht, nicht nachgehalten werden kann.

Dabei spielt weniger eine Rolle, dass die Bilder und Links und Texte und Videos technisch sehr wohl permanent sind. Das, so ist mein Eindruck, ist den meisten Nutzerinnen dieser neueren Netzwerke bekannt. Sondern die Erfahrung spielt eine Rolle, dass es Gespräche, Medien, Äußerungen geben kann und eben tatsächlich im Leben gibt, die nicht durchsuchbar sein sollen.

Ich gebe zu, dass ich einige Zeit auch etwas ratlos vor dem Phänomen stand. Dass ich länger brauchte, um zu verstehen, was denn tatsächlich anders und neu an diesen Netzwerken ist. Wieso eigentlich Yo und Snapchat so viel Geld einsammeln können, immer wieder. Wieso hier etwas entsteht, entstanden ist, das über eine nette Spielerei hinaus geht. (Und auf das ich beruflich als Kommunikator reagieren muss.)

Das dritte Web
Es lohnt sich, einmal darauf zu gucken, wie sich Menschen Inhalte im Web erschließen. Bisher - also in den letzten Jahren - gab es vor allem zwei Formen des Web:

  • Zum einen das "Google-Web", also den Teil des Web, der über Suche und - zumindest in Deutschland und den meisten Teilen Europas - damit über Google angesteuert wurde. Rund 90% der Aktivitäten in diesem Teil des www beginnen mit Suche. Die eigene Webadresse ist für sehr viele Seiten nach wie vor der Suchbegriff, über den sehr viel Traffic aus der Suchmaschine kommt beispielsweise.
  • Und zum anderen das "Facebook-Web" (für einige auch das Twitter-Web, für mich beispielsweise, aber von der Struktur her ist es das gleiche), also den Teil des Web, der über soziale Signale innerhalb eines Netzwerks angesteuert wird. Facebook wird für immer mehr Inhalte und Inhaltsangebote zu einer wichtigen Quelle für Traffic.

Beide haben nur wenig mit einander zu tun. Und die Signale, die über Facebook/Twitter und über Suche kommen, sind auch sehr unterschiedlich. (Weshalb wir in der Kommunikationsbranche ja auch immer beides brauchen - Signale für Google und Signale für Facebook.)

Beide Wege - Suche und Facebook - haben aber gemeinsam, dass sie dauerhaft sind. Zwar ist Facebook von der Reichweite einschränkbar (Privatsphäre, you know), aber im Prinzip sind beides dauerhafte Äußerungen und Signale.

Mit Ephemeral Media werden diesen beiden Webs jetzt um ein drittes, eben ein flüchtiges, nicht durchsuchbares Web ergänzt. Signale, die entweder nur jetzt oder nur für einen kurzen Zeitpunkt gelten, sichtbar sind, etwas erschließen. Mit Ephemeral Media haben wir jetzt drei verschiedene Webs, die in der Praxis oft nur wenige Überschneidungen haben.

Tatsächlich ist aus meiner Sicht das wichtigste und auch das besondere, das mit Snapchat, Yo und Co entsteht, eine nicht-durchsuchbare, flüchtige Onlinekommunikation, die sowohl chatähnlich (1-zu-1) als auch newsletterähnlich (1-zu-n) möglich ist. Gruppenfunktionen und Werbeideen auf Snapchat, Services auf Yo - das ist nur der Anfang eines neuen Ökosystems, davon bin ich überzeugt.

Das nächste große Ding
Und damit sind Ephemeral Media aus meiner Sicht das nächste große Ding im Internetz. Und wundert mich nicht mehr, dass sie so große Euphorie bei Investorinnen hervorrufen. Eine neue Kategorie entsteht, eine der neuen Apps kann im Prinzip eine neue Infrastruktur werden - so wie Google faktisch die Infrastruktur des Such-Web ist. Und Facebook die Infrastruktur des Facebook-Web.

Meine wichtigsten Fragen sind dabei zurzeit, was eigentlich die Flüchtigkeit der Medien für die Kommunikation bedeutet - sowohl die Kommunikation untereinander als auch von uns Unternehmen und Marken mit den Menschen. Und ob (oder eher wie, denn das ob sehe ich nicht mehr so sehr als Frage) sich die Bedürfnisse nach Kommunikation auf die drei Webs aufteilen werden, neu verteilen werden.