21.12.15

Dankbar

Tatsächlich bin ich für das jetzt zu Ende gehende Jahr dankbar. Als wir am Wochenende unseren obligatorischen Jahresbrief schrieben, der jetzt per Schneckenpost, in den Weihnachtspaketen und per Mail an viele der Menschen geht, die uns durch das Leben begleiten, ist mir das noch einmal bewusst geworden. Denn die Tradition eines Jahresbriefs, die wir aus der Familie der Liebsten übernommen haben, ist neben vielem anderen, was daran wunderschön ist, auch immer ein Anlass, inne zu halten, noch einmal nachzudenken, was gut und was weniger gut war in einem Jahr.

Insgesamt, wie gesagt, bin ich dankbar für dieses Jahr. Es gab auch vieles, was anstrengend und einiges, was nicht schön war, das ist klar. Es gab wie immer bei uns (und wie immer in Familien) viele Aufregungen und Veränderungen. Aber ich habe mich wieder ein Stückchen besser kennen gelernt, etwas darüber gelernt, was ich gut kann, was ich weniger gut kann, was mir wichtig ist.

Zwei Dinge ragen da für mich dieses Jahr heraus, die keinen Ort im Jahresbrief fanden, für die ich aber auf einer ganz persönlichen Ebene sehr dankbar bin und die in der Öffentlichkeit Platz haben, also nicht privat sind. Eines ist beruflich und das andere ehrenamtlich.

Ich kann es noch besser als je zuvor
Als ich mich vor ziemlich genau einem Jahr entschloss (und dann Anfang Januar dieses Jahres alles klar war und wir uns über alle Details geeinigt hatten), die Verantwortung für eine Agentur zu übernehmen, war meine größte Unsicherheit, ob ich das wirklich kann. Wie der eine oder die andere weiß, hatte ich mehr als ein Jahr eine eher schwierigere Zeit, in der ich den Eindruck hatte, meine Kreativität versiege, in der ich mir wenige Neugeschäftserfolge anheften konnte. Und in der mir jemand sehr klar gesagt hatte, dass er mir genau das nicht zutraue, was ich jetzt anstrebte: die Geschäftsführung einer Agentur und die Aufgabe, sie kreativ nach vorne zu bringen.

Rückblickend kann ich es ja zugeben: Das hatte mich verunsichert. Und die Frage, ob ich "es noch kann", stand für mich schon etwas bang im Raum. Weshalb ich so sehr dankbar bin für das, was ich in den letzten neun Monaten erlebt habe.

Denn es stellt sich heraus: Ich bin kreativer als jemand zuvor, ich kann Neugeschäft, wir haben es gemeinsam mit dem Team geschafft, eine Agentur, die es ja nun wirklich echt nicht leicht hatte die letzten Jahre, zu drehen - ich bin etwa 12 Monate vor meinem eigenen Zeitplan in dieser Frage.

Das hängt nicht nur an mir sondern auch damit zusammen, dass ich hier sowohl Kreativitätsprozesse habe und implementieren konnte, die Kreativität wirklich möglich machen, als auch im Neugeschäft auf Erfahrungen und ein Netzwerk zurück greifen kann. Aber es ist wunderbar und unerwartet, wie weit wir schon sind, dass ich schon wieder Leute einstellen muss, dass wir etwas neues (er)schaffen.

Vor allem aber bin ich dankbar, dass das, wie ich mir Führung und Kreativität vorstelle, mit diesem Team, das ich vorfand und ausbauen konnte, einfach wirklich funktioniert. Das wunderbarste Kompliment, das ich von einer meiner Führungskräfte bekam, war:
Ja, du bringst uns zum Scheinen.
Das machte mich glücklich. Und zeigt mir, dass ich am richtigen Ort bin. Dass ich etwas beitragen kann. Dass ich einen Unterschied machen kann. Dafür bin ich sehr, sehr dankbar.

Und das zweitwunderbarste Kompliment, das ich bekam, war von einem Branchenbegleiter, der mir auf einen Gruß antwortete:
dass du eine Ausnahmeerscheinung in der Branche bist und bleibst. Deinen Weg und deine Philosophie verfolge ich auch im nächsten Jahr mit großem Interesse.
Dass jemand sieht, was wir hier anders machen, macht mich glücklich. Es spiegelt den ungewöhnlichen Erfolg, den wir dieses Jahr hatten - und macht den sehr anstrengenden und aufregenden Weg, den wir nächstes Jahr noch vor uns haben, um so schöner.

Ich konnte Lebenslinien zusammen führen
Die so genannte Flüchtlingskrise an sich ist nichts, was mich glücklich macht. Einige Begleiterscheinungen machen mich sogar sehr unglücklich, beispielsweise der als Angst verbrämte Hass und die sich als besorgte Bürger verkleidenden Nazis. Aber wie in meinem Stadtteil, in dem ich schon als Jugendlicher lebte und in den ich vor etwas mehr als zehn Jahren zurück kehrte, aus dem Nichts eine neue Zivilgesellschaft entsteht, an der ich - am Anfang mehr als in den letzten Wochen, als ich durch den Jahresendpunk im Beruf (siehe den Abschnitt eben) weniger Zeit dafür hatte - aktiv mitarbeiten durfte.

Das macht mich dankbar. Und das führt Lebenslinien bei mir zusammen, weil ich an viele Dinge anknüpfen konnte, die "von früher" kommen (Politik, Kirche, Antifa-Arbeit, Stadtteil), und das verbinden mit dem, was ich in den letzten Jahren gemacht habe (Aktivierung, Moderation, Social Media, PR). Wo ich wertvoll sein konnte. Etwas beitragen. Einen Unterschied machen. Und wenn daraus auch noch ein ermutigender Vortrag für die re:publica werden sollte (jedenfalls haben wir zu dritt einen dazu eingereicht), wäre das das i-Tüpfelchen.

Das gibt mir Kraft für das nächste Jahr
Ich bin ungebremst auf Weihnachten zugerast, wie quasi immer. Und es ist noch nicht vorbei, morgen, zwei Tage vor Heilig Abend, ist noch eine sehr wichtige große Präsentation. Aber einmal innezuhalten und die Dankbarkeit zu spüren, hilft mir sehr. Und gibt mir die Kraft für das, was kommt. Für das gleiche hohe Tempo im Beruf. Für die Zuspitzung der Situation bei uns im Stadtteil (wenn alle Vertriebenen, die nach Hamburg kommen, einmal bei uns durchgeschleust werden). Für die Familie.

Die Dankbarkeit und das, was gut war, überwiegen dann auch die anderen Erinnerungen. Dass wir nicht ganz jeden Pitch gewinnen konnten. Dass ich selbst in den Fokus von Nazis im Nachbarstadtteil geraten war. Dass ich meinen Ältesten am anderen Ende der Welt vermisse. Dass einer meiner Söhne von Nazis zusammen geschlagen wurde. Dass eines unserer Pferde nie wieder geritten werden kann.

Das Leben ist nicht nur Sonnenschein, ich bin alt genug, um das zu wissen. Aber wenn ich bei jedem Gang zum Einkaufen und jedem Sportdings meiner Kinder auf das angesprochen werde, was wir in Meiendorf tun (immer verbunden mit der Frage, was sie selbst noch beitragen können). Wenn ich Menschen, die mir anvertraut sind, zum Scheinen bringe, und anderen ein Beispiel sein kann, dann lohnt sich das alles. Dann ist es gut so, wie es ist. Alles in allem.


Und dafür bin ich so dankbar.

26.11.15

Vor die Wand

Das Olympiareferendum in Hamburg endet erst am Sonntag. Insofern ist es zu früh, zu spekulieren, ob die Menschen in meiner Stadt mehrheitlich dafür oder dagegen sind, dass sich die Stadt um die Spiele bewirbt. Andererseits wäre eine Grundsatzkritik an der PR-Strategie der Bewerbung wohlfeil, brachte ich sie erst vor, falls die Bewerbung in der Bevölkerung schon gescheitert sein sollte. Insofern - ich weiß nicht, ob es die mindestens 60% Zustimmung geben wird, deren Unterschreitung in der Politik als Katastrophe beschworen wird. Falls es gelingt, diese Zustimmung zu erreichen, lag es nicht an der Kampagne. Und mein Risiko mit diesem Text ist halt, dass es sein kann, dass es trotzdem eine überwältigende Zustimmung zur Bewerbung geben wird.

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Senat, Bürgerschaft, Institutionen, Verbände - dass olympische Spiele 2024 (oder 2028) nach Hamburg müssen, ist unter den offiziellen Meinungshabenden dieser Stadt unumstritten. Dass es eine Kampagne gibt, um die Menschen in dieser Stadt dazu zu bewegen, bis Sonntag mit Ja zu stimmen, ist normal und ok. Über die Werbekampagne will ich nicht sagen, die spricht mich zwar nicht an, aber das ist Geschmacksache. Aber falls es eine Strategie für eine PR-Kampagne gibt (das weiß ich nicht wirklich) und diese erfolgreich sein sollte (also sich in dem niederschlägt, was in Medien und öffentlichen Diskussionen passiert), dann wäre die auf vielen Ebenen falsch. Zumindest ist das, was medial und in der Öffentlichkeit passiert, dem Ziel eher abträglich.

Was wir seit einigen Wochen in Hamburg erleben, fasste die Süddeutsche die Tage als "Werbeblätter für die Spiele" zusammen. So ist es tatsächlich, bis runter auf die Ebene der Wochenblätter und anderen Gratiszeitungen, die in den Briefkästen landen. Nur dem letzten Absatz kann ich nicht zustimmen:
Großer Seufzer. Hanseatische Bescheidenheit ist wohl doch ein Mythos; und das Abendblatt versteht was von PR.
Nein, das Abendblatt versteht nichts von PR. Es versteht nicht mal etwas davon, wie Medien heute funktionieren, offenbar.

Zu glauben, dass heute ein medialer Gleichklang, eine Berichterstattung ohne Nuancen von Kritik, wirklich ein sinnvolles Ziel einer PR-Strategie sein kann, ist dumm. So einfach ist das. In einer Zeit, in der Misstrauen gegenüber dem, was in Medien zu finden ist, nicht mehr nur ein Thema für Expertinnen ist (das war es schon immer, denn wer sich mit einem Thema wirklich auskennt, merkt ja immer gleich, dass in Medien dieses Thema eher - positiv formuliert - oberflächlich behandelt wird), sondern Allgemeingut - in so einer Zeit gibt es nur eines, das schädlicher ist als eine einhellig jubelnde "Berichterstattung", die automatisch dem Verdacht, es sei eigentlich Propaganda, ausgesetzt ist. Und dem auch nicht viel entgegenzusetzen hat. Schädlicher ist nur noch eine einhellig negative Berichterstattung.

Es wird ja viel diskutiert über Verschwörungen und Hass, die in sozialen Medien fröhlich Urständ feiern. Kann man machen. Was übersieht, wer so argumentiert, ist die Mechanik dahinter, wieso Menschen mit Meinungen sichtbar werden, die die meisten von uns für abseitig gehalten hätten. Das, was da passiert, nenne ich gerne die "Synchronisation von Meinungen". Und das ist - zunächst ganz neutral - das Phänomen, dass durch neue Medientechnik Menschen, die eine von der vermuteten Normalität abweichende Meinung haben, merken, dass sie nicht die einzigen sind - und darum mutiger werden, diese Meinung auch offen zu vertreten. Das war so beispielsweise während der Reformation, als daraus, dass Luthers Schriften immer überall ausverkauft waren, von seinen Anhängerinnen geschlossen werden konnte, dass sie viele seien. Das ist so heute mit Facebook, wo noch die abseitigste originellste Meinung auf andere trifft, die es auch so sehen.

In so einer Zeit, in der es einfach ist, schnell Meinungen zu synchronisieren, zu glauben, dass eine einheitliche mediale Tonalität einer Sache helfen kann, ist im besten Fall unüberlegt.

Jede Kampagne rund um eine monothematische Befragung muss und wird sich an die Unentschlossenen richten. Denn wer klar für Ja ist oder klar für Nein, ist ohnehin nicht wirklich zu überzeugen, diese Haltung zu ändern. Und in Vor-Internet-Zeiten haben Kampagnen mit einheitlicher Medientonalität auch durchaus funktioniert. Denn zu zeigen, dass eigentlich alle dafür sind, dass eine Außenseiterin ist, wer davon abweicht, ist rational und emotional richtig gewesen. So wurde damals die Synchronisierung von Meinungen simuliert, die es in Zeiten der Mangelmedien, der Massenmedien so nicht wirklich gab.

Heute aber funktioniert diese Mechanik der 60er bis 80er Jahre nicht mehr. Gerade die Unentschlossenen werden durch diese PR-Strategie vor den Kopf gestoßen und verloren. Ich bin mir sehr sicher, dass die Zustimmung zur Bewerbung Hamburgs vor Beginn der Kampagne größer war als jetzt an ihrem Ende.

Das Problem ist ja, dass im Grunde alle Gruppen unter den Unentschlossenen verprellt werden: Die Intellektuellen, weil sie durchschauen, dass hier nur eine Position dargestellt wird. Die Verschwörungsfans, weil sie hier den Beweis für die Verschwörung sehen, wenn ja doch alle nur eine Position veröffentlichen. Die Skeptischen, weil sie hinter der Massivität der Kampagne vermuten, dass jemand etwas zu verbergen oder Angst habe. Die Rebellischen, weil sie gegen die Mehrheit sind. Und so fort.

Moderne Kampagnen agieren komplett anders als die Hamburger Bewerbung. Zum einen bestärken sie mit Werbung die Überzeugten (was ja auch die Funktion der viel belächelten Plakate in politischen Kampagnen ist). Und zum anderen adressieren sie mit PR die Unentschlossenen. Diskursiv. Und wenn es darum geht, positive Stimmung und positive Meinungen zu synchronisieren, wird eine moderne Kampagne dies da machen, wo diese Synchronisierung heute stattfindet - online, vor allem in sozialen Medien.

So aber fährt die PR-Strategie der Hamburger Bewerbung das gesamte Projekt vor die Wand. Wahrscheinlich kann die Kampagnen-Macherinnen dabei nur trösten, dass die Gegnerinnen von Olympia in Hamburg genauso beknackt agieren.

16.11.15

Ich habe Angst

Mir geht es ähnlich wie Mathias Richel. Und das auf sehr vielen Ebenen. Danke für diesen Text (lest den mal). Ich war auf dem Rückweg nach Europa und gerade in Kopenhagen gelandet, als ich schrieb:

Ich habe Angst vor denen, die Angst haben.
Und ich habe Angst vor meiner Angst.

Denn Angst lähmt.

Ich stand am 9/11 Memorial, als ich die ersten Meldungen aus Paris sah.
Was so grotesk war. An dem Ort - zum ersten Mal, denn als ich das letzte Mal in New York war, gab es dort nur den Ground Zero -, der der Ort eines defining moment meiner Generation symbolisiert.
Die Angst kroch in mich.
Das wollte ich nicht.

Denn Angst lähmt.

Und Angst entschuldigt nichts. Nicht das Nichtstun, nicht das Aufhören. Nicht den Hass. Ja, ich weiß, heute ist es üblich, die Nazis als "besorgte Bürger" zu beschönigen, weil man ja wohl noch mal Rechtsradikales sagen dürfen muss, ohne als rechtsradikal bezeichnet zu werden. So wie ein Finanzminister ja auch aufgrund seiner Mitgliedschaft in einer Regierungspartei per definitionem nicht rechtsradikal sein kann, selbst wenn er rechtsradikales Zeug twittern würde, sagten mir "besorgte Bürger" auf Twitter.

Seit diesem Wochenende habe ich Angst um meine Familie.
Denn die Einschläge sind näher gekommen. Es ist nur eine halbbewusste Bedrohung, der wir ausgesetzt sind. Aber es ist eine Bedrohung. Niemand hat konkret angekündigt, uns umzubringen oder unsere Scheiben einzuschlagen. Aber eine kleine Angst macht sich ganz hinten im Bauch breit und frisst sich über den Magen immer höher.

In der letzten Woche bin ich in den Fokus von besorgten Bürgern Nazis aus dem Nachbarstadtteil Jenfeld geraten, weil ich sichtbar in der Flüchtlingshilfe bin. Ich bin nicht der einzige, dessen Facebook-Profil und Blog sie stalken. Das geht einigen so, die bei uns in der Arbeit mit Vertriebenen engagiert sind. Sie teilen Facebook-Posts meiner Kinder und sagen, sie schämen sich, dass solche Individuen in der Nachbarschaft leben. Sie sagen, wir Gutmenschen sind die aller aller schlimmsten. Sie sagen das am Tag nach den antisemitischen Attentaten von Paris.
Ich lese ihre Kommentare in ihrer Facebook-Gruppe.
Und habe Angst.
Ich will aber keine Angst vor ihnen haben.

Denn Angst lähmt.

Und ich will nicht, dass sie die Lufthoheit bekommen. Oder behalten. Dass wir anderen aus Angst, es könne uns was passieren, schweigen.

Darum ist mir wichtig, dass wir über unsere Ängste reden. Mathias, ich, du, wenn du Angst haben solltest. Dass wir auf einander aufpassen. Dass wir Räume haben, in denen wir mit unseren Ängsten nicht allein sind.

Wir sind in die Sauna gegangen und haben unsere Angst ausgeschwitzt. Wir haben andere informiert, was uns passiert ist. Wir wissen, dass das, was sie tun, nicht gegen Facebooks Gemeinschaftsregeln verstößt, denn sie sagen nicht klar, was sie wirklich von uns halten und am liebsten mit uns tun wollen. Aber wir spüren es durch die Buchstaben hindurch.

Die schlimmste Folge des Terrors ist die Angst.
Ist, dass nicht ausgesprochen werden muss, was gemeint ist. Dass alles dies von der Meinungsfreiheit gedeckt ist, die mir wichtig ist. Denn in der Theorie und von der Haltung her weiß ich, dass sie diese Meinung haben dürfen und sagen dürfen und schreiben dürfen.
Und doch machen sie mir Angst.
Das will ich nicht.

Denn Angst lähmt.





Update 19.30 Uhr
Zwei wunderbare weitere Texte neben dem oben verlinkten kommen von Menschen, die ich sehr schätze - und die ähnlich unsicher, verwirrt, ängstlich sind wie ich:
Tapio Liller
Johnny Haeusler

29.10.15

Vom Versagen und von der Angst

Ich finde gerade keine Zeit für das Aufschreiben wirklicher Gedanken. Darum müssen ein paar Splitter raus. Denn nur, weil ich naiv bin, kann und will ich dem Versagen "des Staates" und vor allem eines großen Teils der (politischen) Eliten nicht einfach nur stumm zusehen.

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Seit meinem letzten Text (und wahrscheinlich, weil ich rund um den Einsatz von Freiwilligen bei uns im Dorf deutlich stärker visibel bin als es meiner tatsächlichen Rolle und meinem tatsächlichen Zeiteinsatz entspricht) werde ich sehr häufig von anderen Geschäftsführerinnen und Führungsleuten auf diese Arbeit angesprochen, oft mit dem klaren Wunsch, etwas zu lernen, etwas zu verstehen, was da an der Basis stattfindet. Das finde ich gut.

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Ich saß neulich in einer großen Runde von Top-Managerinnen zusammen. Was ich zunächst gut finde: Dass die Extremsituation, als die wir die Aufnahme der sehr vielen Vertriebenen erleben, dazu führt, die mich in Deutschland so störende Zurückhaltung solcher Runden bei politischen Diskussionen aufzuweichen. Denn politische Gespräche sind etwas, das ich sonst (im Vergleich mit ähnlichen Runden in den USA) hier sehr vermisse.

Erschreckend fand ich nur, wie sehr selbst in solchen Runden Fragen und Thesen fielen, die dicht an Verschwörungstheorien sind. Wie leicht viele von ihnen in der Flüchtlingsfrage in naturalistische Fehlschlüsse stolperten. Wie phantasielos und ängstlich einige (lustigerweise eher die Männer, keine der - wenigen - Frauen in dieser Runde) über das Zusammenbrechen unserer Rechtssysteme und Gesellschaft redeten, ohne die Zuversicht zu haben, dass sich beides als flexibel genug erweisen und sich weiterzuentwickeln in der Lage sein könnte (wer hätte gedacht, dass ich mich da auf Angela Merkel beziehen würde, als ich mit anderen zusammen dagegen hielt).

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Wenn der Panik und des Populismus unverdächtige Abgeordnete hinter vorgehaltener Hand darüber reden, dass die Situation vor Ort im Grunde außer Kontrolle sei, sie aber auch völlig ratlos seien, dann spüre ich Angst vor oder im Versagen.

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Mein Eindruck ist, dass der politische (und weitgehend auch der publizistische) Diskurs versagt. Weil sich so eine Kaninchen-Schlange-Situation ergeben hat. Die einen irrlichtern komplett (Seehofer und Gabriel), die anderen sehen, wo die Stimmung an der Basis brodelt, und geraten derart in Panik, dass sie in Stresssituationen sogar klare Lügen raushauen (de Maizière), die dritten verweigern sich dem Blick auf eben diese Stimmung, weil sie Angst haben, das "Kippen" erst herbei zu reden. Alles drei ist irre. Und verhindert, dass das, was eben dieses "Kippen" aufhalten könnte, angegangen und versucht wird - das kreative Zugehen der staatlichen und öffentlich-rechtlichen Institutionen auf die Zivilgesellschaft, die seit Wochen aktiv ist und in der seit ungefähr vierzehn Tagen die ersten an den Rand der Erschöpfung geraten sind.

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Ich kann nicht beurteilen, ob es woanders auch so ist. Real und vor Ort kenne ich nur die Situation in Hamburg, und auch da nicht überall. Ich höre teilweise, vor allem vom Land, dass es da, wo klassische Wohlfahrtsträger Unterkünfte für Vertriebene betreiben und Verantwortung übernehmen, besser laufe. Aber das kann auch nur daran liegen, dass es da nicht so viele sind. Immerhin ist es sowohl für die Professionellen als auch für die Freiwilligen eine fast unglaublich anmutende Aufgabe, wenn in den nächsten Wochen (um einmal beim persönlichen Beispiel zu bleiben) fast 6.000 Vertriebene in drei Hallen in einem dörflichen Stadtteil mit bisher rund 10.000 Einwohnerinnen eingezogen sein werden. Auffällig ist nur, dass zumindest in Hamburg, wo der Betrieb dieser Hallen zentral von einer öffentlich-rechtlichen Firma durchgeführt wird, diese Form der Organisation gerade scheitert. Und staatliche und öffentlich-rechtliche, sozusagen quasi-staatliche Organ faktisch versagen (ohne das jemandem individuell vorzuwerfen).

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Beispielsweise ist erschütternd, mit welcher Unverschämtheit sogar ausdrücklich für die Zusammenarbeit mit den Freiwilligen und der Zivilgesellschaft zuständige Profis zunehmend gegenüber Ehrenamtlichen auftreten. Nicht zu ihnen in die Stadtteile kommen, sondern sie in die Zentrale bitten. Nicht etwa erstmal ein dickes Dankeschön sagen (denn an der Basis verrichten die Freiwilligen zurzeit einen wesentlichen Teil der Arbeit, mit der formal die Firma beauftragt ist, die die Einrichtungen für die Vertriebenen betreibt, und für die sie auch Geld von der Stadt bekommt) - sondern erstmal über die eigene Arbeitsbelastung klagen. Und dann die Freiwilligen angesichts ihrer Fragen und Ideen auslachen.

Oder wie von der Stadt bereitgestellte Mittel (Geld), die meines Wissens eigentlich für Angebote an die Vertriebenen bereitstehen, gezielt für andere Honorarkräfte eingesetzt werden, weil die Profis der Firma sagen, dass in Erstaufnahmen keine Angebote stattfinden sollen. Wodurch beispielsweise schulpflichtige Kinder seit zwei Monaten nicht eine Stunde Schule oder etwas Ähnliches bekommen. Und die Koordinatorin im Bezirk für diese Arbeit erstmal in den Urlaub fährt (auch hier kein individueller Vorwurf, war lange vor ihrer Berufung in diese Aufgabe geplant etc). Faktisch offenbar keine echte Aufsicht stattfindet, zugleich aber auch keine wertschätzende Zusammenarbeit mit den Freiwilligen. Sondern in einem Stadtteil, in dem sich über 300 Menschen selbstständig und ohne auch nur die kleinste Unterstützung durch die Stadt, den Bezirk oder die Verwaltung organisiert haben, um zu helfen, von der öffentlich-rechtlichen Firma, die eigentlich für die Vertriebenen zuständig sein soll, an die Freiwilligen die Forderung gestellt wird, erstmal einen "Runden Tisch" zu bilden.

Hallo? Jemand zu Hause?

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Immer mehr Menschen, die am Anfang voller Elan losgelaufen sind, helfen wollten - und es auch tun -, haben keine Lust mehr, sich von staatlichen Stellen und ihren Subunternehmen wie Dreck behandeln zu lassen. Denn das ist das, was diejenigen von uns, die sich um Kommunikation und Koordination kümmern, jeden Tag von den Freiwilligen zurück gespielt bekommen. Und was auch die Verwaltung, die Abgeordneten, die Regierungsmitglieder, die öffentlich-rechtlichen Firmen wissen, weil wir es ihnen regelmäßig sagen. Und ich selbst muss mich sehr zusammen nehmen, damit ich nicht in die Angst rutsche, dass uns die Freiwilligen noch mehr wegbrechen. Bisher sind es nur einige wenige, die frustriert aufgegeben haben.

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In unserem Stadtteil haben Frauen und Männer, die hier leben, zusammen mit einer Interessengemeinschaft von Ladenbesitzerinnen im leerstehenden ehemaligen Schleckermarkt eine Kleiderkammer eingerichtet, die fast jeden Tag von Freiwilligen besetzt ist, um Spenden anzunehmen und zu sortieren. Im Vorort mit seiner Großwohnsiedlung und seinen Reihenhäusern, nicht in einem linken Szeneviertel. Fast jeden Tag sind Freiwillige mit Angeboten (also dem, wofür dem Träger eigentlich Geld gegeben wurde, damit er das macht) in den Hallen, in denen die Vertriebenen wohnen. Ein Blick in den völlig autonom und ohne professionelle Anleitung von vielen, vielen Freiwilligen gemeinsam geführten Kalender auf der Website lässt mein Herz höher schlagen. Und lässt die de Maizières, Seehofers, Gabriels, Kretschmanns dieses Landes noch armseliger erscheinen, als sie es ohnehin schon sind.

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Allem Versagen zum Trotz und aller Angst entgegen - wir sind nicht allein. Und eines Tages werden wir dieses Land verändert haben.


12.10.15

Dann sind wir eben naiv

Eigentlich wollte ich seit Tagen etwas darüber schreiben, dass ich genauso naiv war wie Barack Obama. Toller Satz, oder? Ihr glaubt gar nicht, wie der Nebensatz von Obama vor der UNO in dieser Stadt raufundrunter weitergesagt wurde, als er Hamburg erwähnte, weil wir hier so super mit unseren Flüchtlingen umgehen. Vielleicht, weil dieser Satz so herrlich naiv war. Und weil die Realität so gar nichts damit zu tun zu haben schien in den letzten Wochen.

Und dann habe ich den Text nicht geschrieben, sondern off the record mit denen, die an kleinen Hebeln in dieser Stadt sitzen und nicht bei drei auf den Bäumen waren, über das gesprochen, was in den Vororten gerade passiert, in denen die Vertriebenen und Flüchtenden untergebracht werden. In riesigen Hallen ohne Spinde, ohne Abgrenzungen, ohne Trennung nach Religionen oder Geschlecht.

Ja, wir, die wir in den Vororten aktiv sind - in meinem Fall: in Meiendorf mit Meiendorf Hilft -, waren am Anfang wirklich ähnlich naiv wie Obama. Und sind in den Mühen der Ebene angekommen. Erleben, wie überfordert die Profis sind, deren Job es ist. Erleben, wie groß die Verwerfungen sind und werden.

Und dann sehe ich, wie sich meine Nachbarinnen und Nachbarn (also nicht direkt, sondern die Leute im Stadtteil, von denen in den großen Häusern, die wir ja auch haben, sind erstaunlich wenige dabei) einfach auf den Weg machen.

Ergebnisse eines der letzten Angebote der AG Kinder von Meiendorf hilft

Es ist diese Gleichzeitigkeit, die mich innehalten lässt. Die mir Mut macht. Die toll ist. Dann sind wir eben naiv. Na und?

Ja, es ist teilweise schwer zu ertragen. Und im Prinzip versagt die Stadt und die von ihr beauftragte Firma für den Betrieb der Unterkünfte gerade auf ganzer Linie. Ja, es ist schwer erträglich, dass in vielen Unterkünften nur deshalb noch keine Christinnen gelyncht wurden, weil christliche Helferinnen sie da raus holten und illegal anders unterbrachten. Ja, es ist beängstigend, wenn auf einmal hunderte Männer über den Zaun auf kleine Mädchen starren, die da auf dem Schulhof spielen.

Aber: Es ist dann auch wieder ermutigend, wie naiv und schnell wir gemeinsam mit den Profis einfach mal Regeln außer Kraft setzen. Wie alle wegsehen (und also die Augen zudrücken), wenn zur Lösung eines Problems jemand etwas macht, das eigentlich nicht vorgesehen ist. Wie sich die Helferinnen nicht entmutigen lassen von Schmutz und Verzweiflung bei 1.000 Menschen ohne Privatsphäre auf engstem Raum. Wie sie anfangen und wissen, dass nicht alles so geht wie gedacht. Und dass erst nach und nach die Menschen, die hier zur Ruhe kommen sollen, auch verstehen und lernen werden, was den Nachbarinnen wichtig ist und womit sie ihnen Angst machen.

Gleichzeitig ist es immer wieder zum Verzweifeln, wie langsam die Mühlen der Bürokratie mahlen. Wie die Realität alle Planungen überholt und nur die, die naiv bleiben, überhaupt noch hinterher kommen. Wer sich an offizielle Regeln hält, scheitert in diesen Wochen noch systematischer als die beauftragten Profis und (städtischen) Unternehmen. Und die scheitern ja schon. Großflächig.

Erst war ich zornig darüber. Und heute bin ich froh, dass andere einfach naiv weitermachen. Und habe einiges gelernt, was ich gerne ungefragt weitergebe:
  • Wir sind einen Marathon gestartet und das schwierigste ist, die Freiwilligen, die hoch motiviert loslegen wollen, bei der Stange zu halten, wenn nichts vorangeht. 
  • Wir erleben eine total spannende und (für mich) neue Zusammenarbeit von Zivilgesellschaft und Politik. Ohne die Erfahrung im Umgang mit der regionalen und lokalen Bürokratie (Verwaltung), die unsere Lokalpolitikerinnen haben, wäre viel weniger möglich gewesen. Ohne die Ruhe und den langen Atem der Hauptamtlichen beispielsweise der Kirchengemeinde, die Erfahrung damit haben, Freiwillige zu organisieren, wären wir schon erschöpft. Ohne die Methoden, die wir Berufstätigen und Beraterinnen kennen, hätten wir nie so schnell so viele Nachbarinnen ins Arbeiten und Helfen gebracht. Ohne Scheuklappen arbeiten so viele unterschiedliche Menschen zusammen, dass es eine Freude ist. 
  • Wo immer sich Lokalpolitikerinnen vor Ort in der Koordination der Hilfsgruppen einbringen, hilft das enorm, wegen siehe oben.
  • Jede macht, was sie kann. Und nur, wenn jemand etwas macht, gibt es das. Wenn das einmal klar ist, fangen die Menschen auch an. Und fragen nicht nur, warum es dieses oder jenes nicht gibt. Sobald wir das einmal klar gesagt hatten, waren Fragen und Vorwürfe zu Ende. Das gilt so nicht für die Hauptamtlichen, da ist noch viel im Argen, beispielsweise, dass die nicht darauf vorbereitet waren, mit Freiwilligen zusammen zu arbeiten, dass es allzu lange dauerte, bis sie verstanden haben, dass eine Stunde Kommunikation mit der Koordinierungsgruppe der Freiwilligen ihnen mehr als 20 Stunden Arbeit spart, die von Helferinnen übernommen werden kann. 
  • Demokratie sucks. Einerseits geht es darum, denen, die das noch nicht kennen, unsere langjährig guten Erfahrungen mit dem Kontrollverlust (in Kommunikation und Handeln) zu vermitteln und das Vertrauen in Menschen, die ich nicht kontrollieren kann, aufzubauen. Aber andererseits kann ich auch nicht über alles abstimmen oder es im Konsens tun. Nur wenn einige bereit sind, Entscheidungen zu treffen, die eben nicht vorher ausdiskutiert worden sind, kann es überhaupt gehen. Auch wieder naiv, aber in einer andere Richtung. Eine Gruppe zur Koordination der Hilfe ist nicht gewählt oder beauftragt - sondern übernimmt einfach. Die Facebook-Gruppe ist nicht offen, sondern einige übernehmen einfach, Admin zu sein und Beiträge diktatorisch freizugeben oder nicht.

Jedenfalls habe ich mich dann entschieden, keinen Brandbrief und keinen Brandtext zu schreiben. Meinen Ärger und meine Angst runterzuschlucken. Und weiter das zu machen, was ich beitragen kann und womit ich andere, die tagsüber vor Ort sind, entlaste. Community Management, Vernetzung mit dem Teil von Politik, den ich kenne, die Website. Und das Angebot, da zu sein und zu helfen, wenn die Hetzerinnen und Hetzer der Zeitung mit den großen Buchstaben mal wieder durch den Stadtteil pflügen, um mit erlogenen Geschichten Anwohnerinnen zu strammen Aussagen zu provozieren.

Was die "normalen" Menschen im Stadtteil, die hier zum ersten Mal in ihrem Leben ehrenamtlich aktiv werden und mit Vertriebenen laufen, mit ihren Kindern spielen, Kleidung ausgeben, - was diese Menschen mir zurück gegeben haben, ist der Glaube an das Gute. Und die Naivität.

Ja, verdammt. DANN SIND WIR EBEN NAIV.


25.9.15

Eine Geburt ist eine Krankheit

Das meinen die Krankenkassen, das meint die Schiedsstelle, das wird jetzt Realität in diesem Land.

Denn da jetzt faktisch sowohl Hebammen (so ziemlich der älteste noch existierende medizinische Beruf) als auch - als logische Konsequenz - Hausgeburten abgeschafft und - als weitere Konsequenz - Geburten vollständig in Krankenhäuser verlegt werden, sind die Medizinprofis, die sich mit Krankheiten und dem Gesundwerden beschäftigen, jetzt eben auch allein für Geburten zuständig.

Ja, man darf seine eigenen Erfahrungen nicht überbewerten und daraus Schlüsse für einen allgemeinen Zustand ableiten. Aber ich fand es damals vor fast 15 Jahren, als wir uns das erste Mal für eine Hausgeburt entschieden, schon sehr spannend, dass alle anderen, die wir dabei kennen lernten und die nicht schon mit dem ersten Kind zu Hause gebären wollten, die Entscheidung trafen, weil sie nicht wieder mit Ärztinnen und Ärzten bei der Geburt zu tun haben wollten. Weil das - so war das auch bei uns bei den ersten beiden Geburten - diejenigen im gesamten Geburtsverlauf waren, die sie und auch wir als am wenigsten hilfreich und - ja - am unangenehmsten erlebt hatten. Und übrigens die einzigen, die sich unter der Geburt nach Dienstschichten richteten.

Das erzähle ich nicht, weil ich Ärztinnen nicht mag, im Gegenteil. Das erzähle ich, weil mir bei der ersten (und auch bei der zweiten) Hausgeburt klar wurde, was der wichtigste Unterschied zwischen normaler Geburtshilfe und einer Klinikgeburt ist: Dass eine Geburt im einen Fall als wichtiger Schritt ins Leben und als harte Arbeit der Frau gesehen wird. Und im anderen Fall als Teil des Gesundheitssystems, parallel zu anderen Krankheiten.


Ist es nicht tatsächlich verrückt, dass wir die einzige Generation gewesen sein werden, die mit dem Thema Schwangerschaft, Entscheidung und Geburt halbwegs frei und im eigenen Land umgehen konnte? Die Generation meiner Eltern musste zur Abtreibung ins Ausland, die Generation meiner Kinder wird für eine Geburt, die nicht wie eine Krankheit behandelt wird, ins Ausland müssen.

In den Niederlanden beispielsweise werden zwei von drei Kindern, bei denen es in der Schwangerschaft zu keinen Komplikationen kam, zu Hause geboren. Und auch bei uns ist es bisher so gewesen, dass eine Hausgeburt von einer Hebamme nur begleitet wurde, wenn es in der Schwangerschaft nicht zu Komplikationen kam und es keine Anzeichen dafür gab, dass es dem Kind oder der Mutter nicht gut geht. Wir beispielsweise mussten uns dennoch in einer Geburtsklinik anmelden und vorstellen, damit wir, falls es am Ende der Schwangerschaft zu Gesundheitsproblemen käme, dort bekannt wäre (und die entsprechenden Untersuchungen und Unterlagen vorliegen).

Ich gönne jeder Familie, dass sie das Erlebnis einer schönen Geburt hat - zu der auch das Davor und vor allem das Danach gehören, was im Krankenhaus faktisch nicht möglich ist, weil die Familie recht zügig aus dem Kreißsaal raus muss und nicht wie bei der Hausgeburt von der ersten Presswehe bis drei Tage später im gleichen Bett liegen kann, das auch noch nach ihnen riecht und im eigenen Schlafzimmer steht. Dazu schrieb ich vor eineinhalb Jahren ja schon, als das Theater der Abschaffung der Hausgeburten erstmals seinen Höhepunkt hatte.

Und ich kann jede Familie verstehen, der (auch wenn ich heute weiß: nur vermeintliche) Sicherheit wichtiger ist als ein schöner Lebensbeginn. Das meine ich wirklich so. Zumal es ja auch heute schon nur so wenige Hausgeburten gibt in Deutschland, dass wahrscheinlich die wenigsten Schwangeren eine kennen, die ihnen von einer Hausgeburt berichten kann - und sie sich es schon deshalb gar nicht vorstellen können. Uns kam, wie gesagt, bei den ersten beiden Kindern nicht mal die Idee, dass eine Hausgeburt möglich wäre.

Es mag so sein, dass wir einfach schon älter und erfahrener waren und auch deshalb alles einfacher ging (obwohl eine der beiden Hausgeburten trotzdem ein wirklich sehr hartes Stück Arbeit war für die Liebste und das Kind). Aber privatempirisch können wir schon das bestätigen, was uns die Hebammen auch immer erzählen: Dass das Wochenbett und das Stillen sehr viel einfacher war in der gewohnten Umgebung von Leben und nicht in einer Umgebung von Krankheit und Gesundung. Es ist belegbar, dass es bei Hausgeburten sehr viel weniger Stillprobleme gibt, was aber auch daran liegt, dass die Hebamme als Expertin viel mehr und länger da ist und niemand vom technisch-medizinischen Personal allzu schnell mit der Behauptung um die Ecke kommt, die Frau "könne nicht stillen" oder gar "habe nicht genug Milch" (was absurderweise, obwohl dies lange widerlegt ist - von den sehr wenigen pathologischen Fällen abgesehen -, immer noch vorkommt).

Dass der Hebel, um jetzt Hausgeburten endlich abschaffen können, ausgerechnet der ohnehin nur geschätzte "Geburtstermin" ist, macht mich dann doch und tatsächlich wütend. Wenn ich bedenke, dass die Mutter in unserer Nähe damals ihre Zwillinge 14 Tage nach dem "Geburtstermin" zwar in der Klink aber auf natürlichem Weg geboren hat (wobei ein Zwilling dazu noch in Steißlage war). Ich dachte, in der Schiedsstelle sitzen Menschen, die was von der Sache verstehen? Aus einer anderen Perspektive, aber auch mit der (noch etwas frischeren) Erfahrung einer Hausgeburt, guckt übrigens Teresa Bücker bei Edition F auf das Thema. Und da die Liebste als Beamtin die Rechnungen gesehen hat, kann ich ihr bestätigen: eine Hausgeburt ist extrem viel preiswerter als eine Klinikgeburt. Das nur am Rande...

Ich bin ein sehr großes Fan der solidarischen Krankenkassen und bin da auch immer Mitglied gewesen, obwohl ich es schon seit sehr vielen Jahren nicht mehr müsste. Aber hier erweisen sie uns als Familien in diesem Land und vor allem den Kindern, die noch geboren werden wollen, einen echten Bärendienst. Das ist sehr, sehr schlimm. Und macht mich wirklich unendlich traurig. Vor allem für meine Tochter, die das, was sie selbst als schöne Geburt hatte, so für ihre eigenen Kinder nie haben können wird.

Außer sie geht ins Ausland. Was sie dann halt wird machen müssen.

15.9.15

Anderes zu tun

In der letzten Zeit habe ich ja ohnehin unregelmäßig gebloggt. Mal viel (wie zu Zeiten, in denen ich mich aufrege), mal wenig (vor allem in Zeiten, in denen ich nichts zu sagen habe). Zurzeit ist es anders.

Zum einen
weil ich wirklich sehr viel zu tun habe im Beruf. Nach den ersten Monaten, die ich Cohn & Wolfe jetzt in Deutschland führe, ernten wir die ersten Früchte der Saat, die wir gleich ausgebracht haben. Gewinnen neue Kundinnen, starten große Projekte. Mehr lest ihr in den Fachmedien und bald noch mehr.

Zum anderen
weil ich das, was ich (sozusagen privat) an Öffentlichkeit herstellen kann, jetzt in die konkrete Arbeit vor Ort bei uns in Meiendorf stecke. Zusammen mit anderen Onlinerinnen und Onlinern aus dem Stadtteil habe ich die Website Meiendorf hilft! gebaut und moderiere ich die Facebook-Gruppe mit mehr als 400 Menschen bei uns am Stadtrand, die helfen wollen und noch nicht wirklich loslaufen können.

Bloggen tue ich da auch hin und wieder oder fülle zumindest News nach, beispielsweise zur aktuellen Situation an der Erstaufnahme im Bargkoppelstieg. Das mache ich gerne, weil ich ja finde, dass jede tun sollte, was sie am besten kann - und ein Wochenende am Telefon zu verbringen, um Menschen miteinander zu vernetzen, Infos zusammenzutragen, Kommunikation zu organisieren und dann auch das Communitymanagement einer nicht immer einfachen, weil eben hochmotivierten und von der Situation ausgebremsten, Menschenschar zu machen, das kann ich.



Es ist ein kleiner Beitrag und nicht vergleichbar mit dem, was andere tun, die weit über ihre persönlichen Grenzen gehen. Aber es ist immerhin etwas, das hilft, uns auf einen langen Atem vorzubereiten. Denn noch ist die Situation in Meiendorf nicht nur schwierig sondern hochgradig chaotisch. Der völlig überstürzte Beginn am letzten Wochenende macht es nicht besser, auch wenn es gut ist, dass die Menschen, die vertrieben wurden, wenigstens ein Dach über dem Kopf haben. Und heute scheinen sie auch Duschen zu bekommen, wenn ich das richtig mitbekomme. Und Wifi, wonach sie genau so intensiv fragen, um endlich nach ihren unterwegs verlorenen oder zurück gelassenen Angehörigen zu suchen.

31.8.15

Lev19,33f

Gestern wurde in der Evangelischen Kirche der so genannte "Diakoniesonntag" gefeiert. Alle Texte und Themen des Gottesdienstes waren an diakonischen Aufgaben und dem diakonischen Auftrag orientiert. Beispielsweise war die Evangeliumslesung das berühmte Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Bei uns in Meiendorf-Oldenfelde hat Pastor Gastmeier, den ich schon lange kenne, denn ich war damals im Kirchenvorstand, als er nach Meiendorf kam, die Predigt genutzt, um sehr klare Worte in unsere Situation hinein zu sprechen.

Er hat mir erlaubt, seine Predigt zu veröffentlichen, was ich gerne tue. Ich finde, dass sie es verdient hat, von vielen gelesen zu werden. Und ich hoffe (und gehe davon aus), dass in vielen, vielen Gottesdiensten gestern die Willkommenskultur und die Hilfe für die Vertriebenen ein großes Thema für klare Worte war. Über Hinweise auf anderen gute Texte und Predigten freue ich mich darum. Sagt es weiter, teilt diesen Text, werdet bei euch vor Ort aktiv - fast überall werden die Kirchen euch dabei unterstützen, fast überall sind sie wichtige Anlaufstellen für die, die helfen wollen und nicht wissen, wie.

28.8.15

We'll walk hand in hand



Wenn der täglich neue Ekel angesichts des krassen Versagens unserer Eliten (mit den wenigen Ausnahmen, die ihr kennt und die zumindest für mich alle drei überraschend sind) mir die Kehle zuzuschnüren droht, ist es gut, sich auf die Wurzeln der Hoffnung zu besinnen.

Und noch einmal zuzuhören, was einer in Merkels Position sagte, als es in seinem Land zu einem defining moment kam. Denn so etwas werden wir auf absehbare Zeit in diesem Land aus Gründen nicht zu hören bekommen, auch wenn es Not täte.



We shall overcome ist eines der Lieder, mit denen ich in der Friedensbewegung aufgewachsen bin, zu dem wir in unserer achteckigen Kirche Friedensnetze geknüpft haben. Das zur Generation meiner Eltern gehört, von der ich gelernt habe, was es heißt, zusammen zu stehen und sich zu entscheiden, wenn es drauf ankommt. 
Stoltenbergs Rede, vor allem mit dem klaren Bekenntnis zu mehr Demokratie angesichts von Terror, direkt nach den Tränen für die Opfer, ist das Benchmark für Führung in so einem Moment. Höchstens noch vergleichbar war vielleicht Obamas Amazing grace, das ich im letzten Artikel eingebettet hatte... 

25.8.15

No Comment [Update am Ende, wichtig]

Idioten sind Idioten. Punkt.
Nazis sind Nazis. Punkt.
Brandstifter sind Brandstifter. Auch geistige sind Brandstifter. Punkt.
Pöbel ist Pöbel. Punkt.
Volk ist Volk. Punkt.

Ich bin jetzt 45. Habe einen schönen aber zeitintensiven Job. Verbringe Zeit mit Frau und Kindern. Und mit Hund und Pferden.
Und mit Dingen, die ich nicht breittrete hier.

Ich verbringe keine Zeit mit Idioten, Nazis, Brandstiftern, Pöbel oder dem Volk.
Die können mich nämlich mal.
Und kotzen mich an.
Selbst wenn sie in der SPD oder der CDU sind. Oder dann noch mehr vielleicht sogar.

Ich verbringe auch keine Zeit mehr mit Leuten, die Zeit mit Idioten, Nazis, Brandstiftern, Pöbel oder dem Volk verbringen.
Denn sie bestärken die Idioten, Nazis, Brandstifter, den Pöbel und das Volk.
Und das kotzt mich an.

Die Liebste sagt ja immer, Toleranz ende mir z.
Und da hat sie Recht.
Wer Idioten, Nazis, Brandstifter, Pöbel oder das Volk auch nur toleriert oder mit Idioten, Nazis, Brandstiftern, dem Pöbel oder dem Volk diskutiert, macht Idioten, Nazis, Brandstifter, den Pöbel oder das Volk stärker, allein weil sie sich damit stärker fühlen.

Das Leben, auch das Leben der Menschen, die von Idioten, Nazis, Brandstiftern, dem Pöbel und dem Volk angegriffen werden, wäre besser, wenn wir Idioten Idioten nennen, Nazis Nazis, Brandstifter Brandstifter, Pöbel Pöbel und Volk Volk.
Und sie isolieren.
Denn sie wollen ja dazu gehören, halten sich für die schweigende Mehrheit.
Nur durch Unterdrückung aber werden wir sie klein halten.

Idioten, Nazis, Brandstifter, Pöbel und das Volk kann ich nicht überzeugen.
Und will ich auch nicht.
Idioten, Nazis, Brandstifter, Pöbel und das Volk kann ich nur bekämpfen.
Und unterdrücken.

Und mit euch anderen Menschen ein menschenwertes Leben leben und exemplarisch überall Teile einer menschenwerten Gesellschaft bauen.
Jeden Tag. Jeden Tag. Jeden Tag.

Null Toleranz. No comment.

Idioten lasse ich stehen.
Nazis lasse ich stehen.
Brandstifter lasse ich stehen, auch geistige.
Pöbel lasse ich stehen.
Volk lasse ich stehen.


Und habe eine Apfelbaum gepflanzt.





[Update 26.8.17.40]
Besser als diese Lyrik ist - wieder einmal - die Kolumne von Sascha Lobo.
Denn er hat Recht.

Und großartiger und zugleich differenziert, klar und zornig (da bin ich fast neidisch drauf, wie es ihm wieder gelingt) ist Johnny Haeusler.

Wo ich beiden zustimme - und was ich mit der dürren Lyrik oben, die mein hilfloser Weg ist, für mich dieses auszurücken, ebenfalls sagen will -, ist dies: Dies ist eine tatsächlich entscheidende Situation. Ein, wie Sascha es nennt, defining moment. Und ich glaube nicht mehr daran, dass es ohne echten Kampf geht. Sondern in der doppelten Bewegung von Ausgrenzung und klarem Widerstand einerseits und vom Bauen von Beispielen andererseits.

Und das wird auf einmal wichtig in meiner direkten Umgebung. Beides.
Seit heute wird in meinem Stadtteil die wahrscheinlich bisher größte Anlage Hamburgs hergerichtet, in der Flüchtlinge erstmal schlafen können. Es ist beeindruckend, in welcher Geschwindigkeit und Menge sich Menschen, die in diesem Stadtteil für die Zivilgesellschaft stehen, vernetzen und Verantwortung übernehmen. Allen voran  - und das explizit, weil ich oben die CDU explizit kritisiere - unsere CDU-Kommunalpolitikerin von der Stadtteilkonferenz.

Und linke Jugendliche in unserem Stadtteil verständigen sich innerhalb von Minuten via WhatsApp und Co, ein Auge darauf zu haben und ihren Beitrag aktiv zu leisten, dass diese Anlage nicht zerstört wird.

Und ein kleines Wort noch zu denen aus meiner religiösen Ecke,
die mir WWJD zuriefen: Ja, Jesus aß mit den Sünderinnen. Ja, Jesus redete mit all diesen. Aber mit denen, die mit einem Mindestmaß an Demut kamen. Nicht mit den Pharisäern. Die Idioten, Nazis, Brandstifter, Pöbel, Volk aber sind die selbstgerechten Pharisäerinnen. Und ansonsten:

31.7.15

Die Würde des Menschen ist eingeschränkt unantastbar

Dass ich kein übertrieben großer Fan von Ex-Ministerin Kristina Schröder bin, ist für euch sicher nicht so überraschend. Dass sie kein übertrieben großer Fan des Grundgesetzes zu sein scheint, ist für mich dann schon eher überraschend*.

Das Positive vorweg
Die ersten Reaktionen aus Regierungsfraktionen auf den staatlichen Anschlag auf die Pressefreiheit gestehen immerhin zu, dass es ein Anschlag auf die Pressefreiheit sei - dass die halt einfach nicht uneingeschränkt gelte (was stimmt, siehe Grundgesetz Art 5 II). Damit sind die Linien klar. Und es ist von denen, die für diesen Anschlag sind, auch klar gemacht, dass es um Pressefreiheit geht und darum, wie sehr wir sie einschränken wollen. Das ist ein lohnender Kampf.

Das Erschütternde dann aber auch
Für eine Ex-Ministerin und MdB gibt es keine Grundrechte, die schrankenlos gelten:
Während ich gerne und hart mit Reaktionärinnen über die Pressefreiheit #ups streite, mache ich das nicht mit Verfassungsfeindinnen. Die Vorstellung, Art. 1 und 3 (die beide explizit KEINEN Gesetzes- also Einschränkungsvorbehalt haben) gälten nicht schrankenlos, ist nicht nur absurd und gefährlich - sondern ein Grund, sich mit den eigenen Aktionen auf Art. 20 (4) zu berufen.

Was für eine - sorry - perverse Vorstellung von ihrer Macht als Parlamentarierin oder vorher Ministerin hat denn Frau Schröder bitte, wenn sie meint, auch die elementaren Grundrechte würden nicht schrankenlos gelten - sondern seien durch ihr (gesetzgeberisches) Handeln einschränkbar? Ja, das Parlament kann die Pressefreiheit einschränken, die Pressefreiheit hat sogar eine explizite Einschränkung in ihrem eigenen Grundrechtsartikel (auch wenn diese Ehre-Einschränkung irgendwie schräg ist an dieser Stelle). Aber auch Frau Schröder kann Art. 1 und 3 (Würde des Menschen und Gleichheit vor dem Gesetz) nicht mit Schranken belegen.

Es ist ein Skandal
Und es zeigt, wie weit wir in diesem Land tatsächlich schon wieder sind, dass hochrangige Politikerinnen auf eine der größten Demokratiekrisen seit der Spiegel-Affäre 1962 mit einer Verhöhnung des Grundgesetzes reagieren. Und ihr wundert euch, dass der Ton rau wird?

Und noch zur Pressefreiheit
Ich trage ja Verantwortung für eine PR-Agentur. Und für uns PR-Leute ist Pressefreiheit nicht nur irgendein einschränkbares Dingens. Sondern eine wesentliche Voraussetzung für unsere Arbeit. Darum reagiere ich so empfindlich auf den Anschlag (also nicht nur darum, aber eben auch darum). Darum müssen wir führenden PR-Köpfe uns so klar und eindeutig und laut und deutlich gegen diesen Anschlag auf die Pressefreiheit positionieren. Funktionierende, freie, mutige Medien und Publikationen sind die Basis dafür, dass wir unseren Job für unsere Kundinnen machen können. Denn sie sind ein wesentlicher Teil des "Public" in Public Relations. Der staatliche Angriff und die indifferente Haltung der Regierungsfraktionen zu diesem Angriff gefährden mein Geschäft. Schaden der Firma, für die ich Verantwortung habe.

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* doch, echt, ist es. Ich gehöre nicht zu denen, die gleich allen, mit denen sie politisch über Kreuz sind, Bosheit oder Dummheit unterstellen (echt nicht). Und obwohl ich Frau Schröder für reaktionär halte, dachte ich, dass sie einen klaren, christlich geprägten Wertehaushalt hat und voll aufs Grundgesetzt steht.

30.7.15

Um den Schlaf gebracht

Seit Jahren gab es die Terrorwarnungen. Und dann plötzlich brach der Terror im ganzen Land los. Seit Anfang des Jahres gibt es jeden einzelnen Tag einen islamistisch motivierten Terroranschlag. Vor allem auf Wohnhäuser von Deutschen. Teilweise auch auf fast fertig gestellte neue Wohnblocks, die in den letzten Jahren wieder verstärkt gebaut und gefördert wurden. In Hamburg beispielsweise mit dem ehrgeizigen Wohnungsbauprogramm, das die SPD bei Regierungsübernahme vor mehr als vier Jahren angeschoben hat.

Die Sympathie und Unterstützung dafür, dass immer mehr Moslems sich trauen, der Scharia und ihrer Überzeugung zu folgen und nicht den ohnehin aus ihrer Sicht versagenden Gesetzen dieses Landes, wächst seit Monaten massiv. Zunächst unter Muslimen, die eingewandert sind, jetzt aber vor allem unter den hier geborenen, die sich zunehmend als Verlierer der großen Veränderungen fühlen, die dieses Land seit einigen Jahren erfassen. Ihre eher diffuse Wut darauf, nicht gehört zu werden und von den Medien und der Politik links liegen gelassen worden zu sein, entlud sich an einigen Orten in Massenkundgebungen und der Bildung von Bürgerwehren.

Bürgerwehr
Obwohl die Politik seit einigen Jahren den Aus- und Umbau von Polizei und Sicherheitsgesetzen vor allem mit der Terrorgefahr begründet hat, traf es sie unvorbereitet, als der islamistische Terror dann tatsächlich losging. Wahrscheinlich, weil es schleichend begann - hier mal ein Brandanschlag, dort mal eine Demonstration - und sich eine gewisse Gewöhnung einstellte. Vor allem CDU und SPD waren schnell dabei, Verständnis für die Ängste der Moslems zu bekunden. Mit einer recht eleganten Rollenverteilung: Während die Kanzlerin weiterregierte, als ob es den Terror nicht gäbe, versuchte sich der Vorsitzende der SPD und Vizekanzler in einer Umarmungsstrategie. Er begann einen Dialog mit den islamistischen Kämpfern und erklärte die Ideen ihrer Unterstützer rund um die Einführung der Scharia für diskussionswürdig. Medien begannen, die Terrorbewegung als "Aufklärungskritiker" zu bezeichnen.

Gated Community
Der Trend, dass sich Angehörige der deutschen Mittelschicht in so genannte "Gated Community" zurück ziehen, hatte schon deutlich vor dem Aufflammen des Terrors begonnen. Inzwischen bekommen diese Siedlungen deutliche Unterstützung von Landesregierungen gleich welcher Farbe - ob CSU, Grüne oder SPD.

Auffällig ist, dass die Hardliner unter den Innenpolitikern seltsam verstummt sind. Haben sie in den letzten Jahren für die volle Härte des Gesetzes plädiert, äußern sie sich fast gar nicht zum islamistischen Terror. Auch der Bundespräsident schweigt, ebenso der Großteil der Künstler und Medien.


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Wenn gar nichts anderes hilft, kannst du immer noch die Boxen aufdrehen. Denn das laute Schweigen der sonst so lauten Künstlerinnen ist bedrückend und irritierend. Wieso ist Farin einer von nur dreien oder so, die sprechen? Und wo ist eigentlich der Bundeshorst, wenn man ihn mal braucht?

16.7.15

YouTube ist doch was für Kinder

Was regen sie sich alle auf. Die Journalistinnen darüber, dass +LeFloid irgendwie angeblich nicht kritisch nachgefragt habe. Die PR-lerinnen (mich eingeschlossen in meiner ersten Reaktion), dass +LeFloid PR für Merkel macht. Die linken Bloggerinnen (mich eingeschlossen in meiner ersten Reaktion), dass Merkel ihre normale Merkelisierungsnummer abzieht.

Und dann rede ich mit Lehrerinnen, die 16-jährige unterrichten, die gerade ihren Ersten Schulabschluss gemacht haben (früher: Hauptschulabschluss). Und fast unisono erleben sie, dass die Jugendlichen das Video sehen wollten. Teilweise zwangen sie ihre Lehrerinnen, am letzten Schultag (!), noch kurz bevor sie sich zum Abschlussfrühstück hinsetzten, das Video auf das Smartboard zu werfen. Und sahen zu einem großen Teil ruhig (ungewöhnlich) und interessiert (seeehr ungewöhnlich) zu. Und fanden es mega. Heißt: interessant, sympathisch - und von +LeFloid cool.

Dazu zwei Anmerkungen vorweg:
Ich nehme mir vor, bei so Dingen, die so gar nicht für mich gemacht sind, wieder erstmal mit Leuten zu sprechen, für die sie gemacht sind. Und: Dass es funktioniert und von der Zielgruppe für gut befunden wird, sagt dennoch nichts über Qualität oder Sinn.

Aber: Die Erfahrung im Zielgruppen-Umfeld ist, dass es +LeFloid selbst mit diesem langsamen und leicht unbeholfenen Format gelingt, für Politik zu interessieren. Was ich mega finde. Und wie ich immer und überall ungefragt anmerke: Ich bin saufroh, dass meine Kinder und überhaupt die nächste Generation ihre politische Bildung und ihre bevorzugten politischen Kommentare von +LeFloid bekommt und nicht von irgendwelchen Spinnerinnen und krakeelenden Rechten oder so. Ich bin dir dankbar. Und zwar sehr.

Und dann sprach ich gestern Abend mit meinen Kindern über dieses Interview. Das ist jetzt nicht repräsentativ, gar nicht. Obere Mittelschicht, auf dem Weg zum Abi, medienaffines Elternhaus including Tageszeitung zum Frühstück, u know. Aber die Reaktionen waren interessant:
  • Der 18-jährige, sehr politisch, latent linksradikal (also völlig normaler Oberstufenschüler einer Stadtteilschule), fragte: "Wer?" Und als ich ihm erklärte, was +LeFloid macht, erinnerte er sich, das irgendwann schon mal gesehen zu haben, ja. Aber Merkel? Och nö.
  • Der 13-jährige, der vor einem Jahr noch alles, was er über Politik wusste von +LeFloid hatte (wofür ich, sagte ich das schon?, echt dankbar bin), bemerkte, dass er es nicht gesehen habe.
Er sagte stattdessen:
Ich sehe kein YouTube mehr.
Das sei doch eher was für Kinder. 

Sein (Video-, Entertainment-) Setup sieht heute so aus:
  • Er produziert (vor allem Let's Play) Videos für YouTube.
  • Er sieht Videos vor allem bei Twitch (ich habe auch den Verdacht, dass er da die eine oder andere Paysafecard für einsetzt, in die er sein Taschengeld umwandelt - disclosure: Ich habe für Paysafecard gearbeitet in meinem letzten Job).
  • Serien und "TV" sieht er bei Netflix über unseren Familienaccount, aber auf seinem PC oder Smartphone.
  • Und sonst nutzt er für Entertainment und Kommunikation vor allem Snapchat und Insta (neben WhatsApp, aber das hat ja eine komplett andere Funktion).
  • Seit kurzem investiert er eigenes Geld in eine mobile Datenflat.
Wie gesagt - das ist das konkrete Verhalten eines konkreten 13-jährigen, keine Marktforschung, keine Verallgemeinerung. Aber das ist ungefähr auch das, was wir in fast allen Familien in unserer Umgebung mit leichten Nuancen erleben.

Meine Beobachtung ist dabei, dass sehr viel der Interaktion, des Folgens ihrer Vorbilder, Stars, Tipp-Geberinnen (ob beim Gaming oder beim Schminken und Stylen) gerade in den letzten Monaten nach Snapchat abgewandert ist. Dass beispielsweise die Mädchen Bibi oder Joana intensiver bei Snapchat folgen und zusehen als in ihren YouTube-Kanälen und Blogs. Was auch irgendwie logisch ist, hier kommen sie so dicht an sie heran, wie es vorher kaum möglich schien. Auf 10cm. Und das fast in Echtzeit, mit maximal einer (Schul-) Stunde Zeitverzug.

Was für spannende Zeiten.

(übrigens könnt ihr meinen Storys auf Snapchat folgen, wenn ihr das Bild da an der Seite snapt. Ganz einfach)

8.7.15

Scharlatane kann ich nicht mit Dünnsinn vertreiben

Ich habe mich sehr über Thomas Armbrüsters Gastbeitrag im Pressesprecher geärgert, in dem er gegen Authentizität in der Führung wettert. Er ist ja fast genau mein Alter und ebenfalls Norddeutscher, also in einer ähnlichen ideologischen Großwetterlage aufgewachsen wie ich (allerdings legt sein Lebensweg nahe, dass er am exakt anderen Ende des Spektrums akzeptabler eigener Interpretationen dieser Wetterlage lag als ich), was deshalb wichtig ist, weil ich prinzipisch nachvollziehen kann, wogegen er wettert, weil ich ungefähr die gleichen Trends und Deformationen miterlebte und sah.

Das vorweg geschickt also.
Was es nicht besser macht.

Armbrüster konstatiert gleich zu Anfang:
Überall hört man den Ruf nach Authentizität. ... Er ist ein Irrweg der Personal- und Führungskräfteentwicklung und kann zu einem Mangel an Professionalität und Integrität führen.
Und das ist im Kern das, was er dann länglich ausführt.
Und das halte ich für totalen Unsinn.

Im Grunde könnte ich auf meinen Blogpost vom Februar 2009 verweisen, in dem das meiste zum Missverständnis rund um Authentizität bereits gesagt ist. Kernsatz damals war - und stimmt meines Erachtens bis heute:
Ich denke, dass oft Authentizität mit Unmittelbarkeit verwechselt wird.
Was Armbrüster im Verlauf seines komplett polemischen Textes fast glossenartig ausführt, beruht auf einer mich bei ihm wirklich sehr überraschenden Fehleinschätzung, was denn authentisch, was denn Authentizität sei.

Ich teile seine Polemik gegen die Scharlatane der Beratungsbranche,
die mit eben derselben Verwechslung sehr viel Schaden bei unbedarften Menschen anrichten, die führen wollen/sollen/müssen und ihre Hilfe suchen. Nur: "sei authentisch" heißt eben nicht "sag immer direkt, was du denkst". Es heißt nicht einmal "sei ganz du selbst" oder referenzierte gar auf einen (ja, da hat Armbrüster Recht, absurden) "inneren Wesenskern". Das ist Vulgärbiologismus, ja.

Ich kann es nur noch einmal betonen: Authentizität hat sehr viel mit Kultur und sehr wenig mit Natur zu tun. So wie Professionalität und Integrität. Wikipedia ist sicher in einer kulturphilosophischen Debatte nicht die seligmachende Quelle, aber dennoch lohnt ein Blick auf den Artikel zur Authentizität, um deutlich zu machen, wie sehr und wie ideologisch Armbrüster den Begriff für seine Bedürfnisse verbiegt und manipuliert.

Ich halte das, was und wie Armbrüster argumentiert, für unredlich, wirklich - und darum ärgert es mich so. Er zeichnet ein Zerrbild von Authentizität, das, wäre es richtig, ja auch tatsächlich grauenvoll wäre. Und begründet damit, warum es aus dem Vokabular von Führung getilgt gehörte. Dabei gehörte nur das Zerrbild, nur die Scharlatanie getilgt, denke ich.

Vielleicht bin ich deshalb so emotional in dieser Frage, weil ich in den letzten Jahren eher die angelsächsische Diskussion verfolgt und mitgestaltet habe. Als wir Edelman Digital aufbauten, nannten wir unser Blog Authenticities (gibt es nicht mehr). Bei Cohn & Wolfe, deren Geschäft ich in Deutschland führe, haben wir eine groß angelegte Untersuchung und Position zu Authentic Brands. Interessanterweise habe ich wenige der Verzerrungen, die Armbrüster einerseits kritisiert und andererseits fortschreibt, in der englischen Diskussion gesehen bisher.

Mir ist Authentizität gerade in der Führung wichtig.
Wiederum ebenso wie Professionalität und Integrität - ich kann da, wenn Authentizität richtig verstanden wird und nicht mit Unmittelbarkeit verwechselt, keinen Widerspruch sehen. Sicher - ich kenne auch authentische Führungskräfte, die nicht professionell sind (oh ja) oder/und nicht integer. Allerdings sind selbst die besser zu ertragen, wenn sie wenigstens authentisch sind.

Im Bereich Führung - anders vielleicht als im Bereich Marketing/Kommunikation - scheint mir Authentizität einer der Schlüssel für Berechenbarkeit zu sein und dafür, dass ich als Führungskraft von denen, die ich führe, "gelesen" werden kann. Was beispielsweise nicht geht, wenn ich unmittelbar bin, weil das oft  - logischerweise - erratisch ist. Wenn bei einer Führungskraft eine Linie zu erkennen ist, hängt das nach meiner Erfahrung sehr oft damit zusammen, dass sie authentisch handelt.

Authentisch kann nur sein, wer ein Werte- und Haltungssystem für sich entwickelt hat, wer eine Linie gefunden hat. Siehe im oben verlinkten Blogpost meine These, dass Kinder nicht authentisch sind sondern eben nur unmittelbar. Authentisch sein, heißt nicht, alles rauszulassen, was mir in den Kopf kommt oder auf der Leber liegt, sondern ein konsistentes Bild von mir zu schaffen, das mit meinen Werten und meiner Haltung zu tun hat. Darum können auch Arschlöcher authentisch sein. Auch, wenn das dann nicht professionell ist. Und darum gehört zu professionellem Führungsverhalten immer auch Authentizität. Im Gegensatz zu Armbrüster formuliere ich also (und in Anlehnung an seine Polemik auch etwas polemisch) -

Wer glaubt, ohne Authentizität und ohne Arbeit an authentischem Handeln 
professionell führen zu können, irrt. 
Und scheitert als Führungskraft. 
Total.




(Allerdings ich bin ja auch nur Praktiker und nicht Theoretiker oder Berater in diesen Fragen...)

21.6.15

Das gesunde Volksempfinden des Reinhold Gall

Ich denke, dass wir über Vorratsdatenspeicherung diskutieren können. Und bin der SPD dankbar, dass sie es getan hat. Ich finde das Ergebnis falsch, aber das ist Politik. Was nicht Politik ist, sind die Äußerungen des SPD-Innenministers von Baden-Württemberg Sonnabend um 22.00 Uhr.  Des Ministers, der für Freiheit und Verfassung und Polizei zuständig ist.
Was will er mir damit sagen? Dass Schutzhaft, Erpressung und Folter ok wären, wenn sie Kinderschänder oder Entführung überführen oder aufklären? Dass sich alles, wirklich alles (denn Freiheit ist so ziemlich alles) unterordnen muss, wenn es um Strafe geht?

Mit dieser Logik sind wir so dicht an Folter und der Todesstrafe, dass es nur noch ein kleiner Schritt ist von diesem Satz zum gesunden Volksempfinden. Das niemals Richtschnur politischen Handelns sein darf. Zumindest nicht bei denen, die Demokratinnen sind.

So ein Innenminister ist in einer grün geführten Regierung untragbar und muss entlassen werden. So was würde ja nicht mal der Hamburger Innensenator sagen, der ja nun auch kein sicherheitspolitisches Kind von Traurigkeit und für VDS ist.

26.5.15

Ein Lob der Filterblase

Überall wird über Filterblasen (oder Filter-Bubbles) geredet. Meist geklagt. Darüber, wie anders alles sei als früherTM. Und überhaupt. Aus dem Augenwinkel sah ich den Tweet der geschätzten Claudia Klinger, der mich zu Widerspruch reizte -
- und mir deutlich machte, wie sehr ich bereinigte Filterblasen brauche. Und wie gut und gesund Filterblasen sind. Zugleich hängt das, was ich beobachte und brauche, auch damit zusammen, dass ich ja schon die Analyse "aggressiv" für die Jetzt-Zeit nicht teile (oder jedenfalls nicht, dass diese Zeit aggressiver sei als eine frühere, schrieb ich gerade erst zu).

Tatsächlich konnte ich früherTM, als ich aufwuchs, in meiner wildern Zeit, in gewisser Weise unaufgeregter radikal und aggressiv sein, weil wir, die wir unterschiedliche Haltungen zu so ziemlich allem hatten, uns besser aus dem Weg gehen konnten - oder es zumindest taten. Außer in der Schule, die im Grunde schon wie die Jetzt-Zeit funktionierte mit ihrer Enge und ihrer über alle Bedürfnisse hinausgehenden Verbundenheit und ihrem Netzwerk.
(Was mich zur Frage bringt, ob die Vernetzung und Transparenz von Diskussionen und Auseinandersetzungen heute nicht eigentlich die Verlängerung der Schulzeit ins Unendliche ist. Oder wie es so wunderbar in der ersten Folge von Glee heißt: Die Highschool endet nie. Aber das ist eine andere Geschichte, der ich mal nachgehen muss. Hat dazu schon jemand was lesenswertes geschrieben?)
Filterblasen sind wichtig
An sich war Verbindung und Transparenz ja eines der Versprechen und eine der Hoffnungen, die wir rund um Netzwerke und den Siegeszug von Onlinekommunikation hatten. Was zu einem Teil auch eingetreten ist. Kollateralschaden (ja, würde ich so nennen wollen) war allerdings, dass wir uns nicht mehr aus dem Weg gehen konnten - oder genau das anstrengend wurde. Störkommunikation funkte immer dazwischen, wenn sich Gruppen, die sich früherTM in der Kohlenstoffwelt oder in Zeitschriften über ihre Positionen und Argumente versicherten, nun in (halb-) öffentlichen Räumen im Internet trafen.

Die Kurzatmigkeit und die Selbstzerstörungskräfte sind aus meiner Sicht eine Folge von Transparenz und digitaler Nähe. Vom permanenten Schulhof mit seiner besonderen sozialen Dynamik, die hinter mir zu lassen eine der großen Erleichterungen meines Wechsels ins Studium war. So lange mediale Diskurse (beispielsweise) sich noch so verhalten wie früherTM, in der vordigitalen Zeit, verlieren interne und suchende Diskussionen, eben auch solche, die Abgrenzungen brauchen und probieren, ihre Funktion - nämlich die der Vorklärung vor dem öffentlichen Diskurs.

Filterblasen hat es immer gegeben. In der vordigitalen Zeit durch die Kreise, in denen ich mich bewegte und die Medien, die ich konsumierte oder gestaltete. Zehn Jahre öffentlich einsehbare Filterblasen zeigen zumindest mir, dass sie wichtig sind und eine wichtige Funktion haben.

Blocken und Löschen
Persönliche öffentliche Kommunikation heute hat aus meiner Sicht die Zwitterfunktion (die nach meiner Erfahrung auch professionelle öffentliche Kommunikation in Netzwerken hat, beispielsweise in Unternehmensblogs oder Facebookseiten, die jeweils mindestens so sehr nach Innen wirken wie nach Außen), einen engeren Kreis zu erreichen und für andere sichtbar und auffindbar zu sein. Das mache ich bevorzugt hier im Blog.

Auf Netzwerk-Plattformen ist das etwas anders. Und seit ich mich beispielsweise auf Twitter bewusst von denen abgrenze, mit denen ich nichts zu tun haben will - indem ich misogyne oder rassistische Leute blocke, also selbst ihre mich direkt adressierenden Absonderungen nicht mehr sehe -, geht es mir besser. Und bin ich lustigerweise auch weniger aggressiv. Das Herstellen einer Filterblase ist wichtig und hilfreich. Und übrigens auch sozusagen natürlich.

Wiederentdeckung von Flüchtigkeit
Gegen die Kurzatmigkeit und die Skandalisierungsmaschine helfen daneben flüchtige Kommunikationsformen. So war es immer schon mit dem Hintergrundgespräch, das nicht aufgezeichnet wurde, mit dem nicht aufgenommenen Telefonat, mit dem Smalltalk bei Treffen, Partys, Empfängen.

Und so ist es mit den neuen Netzwerken, die ich Ephemeral Media nenne. Es ist aus meiner Sicht kein Zufall, dass sie vor allem von jungen Leuten, die das FrüherTM der vordigitalen Kommunikation nicht kennen, so stark genutzt und gebraucht werden. Weil sie eben das Bedürfnis von gefilterter und nicht durchsuchbarer Kommunikation befriedigen. Weil eben ein öffentliches Gespräch, das dann über Periscope aber nur 24h erreichbar und auch in dieser Zeit nicht durch Suche (also zufällig) auffindbar ist, anders ist als eines, das permanent in die zweitgrößte Suchmaschine (YouTube) eingespeist wird.

Filterblasen, Löschen, Blocken, flüchtige Medien - alles das kann, davon bin ich überzeugt, kurzatmige Aufschaukelungen eindämmen. Und darum mag ich sie. Sie sind die Grundlage einer gehaltvollen Diskussionskultur. Wie wir ex negativo am kommunikativ gescheiterten Piraten-Experiment totaler Transparenz und Permanenz in Diskussionen sehen konnten.

27.4.15

Die Härte

In den letzten Tagen, vielleicht auch Wochen, ist in meiner Ecke des Internets wieder mehr von einer zunehmenden Härte die Rede. Exemplarisch beim hochgeschätzten Don Dahlmann. Als Mensch, der als Mensch latent "nett" ist und ein (für manche vielleicht überraschend großes) Harmoniebedürfnis hat, kann ich das zunächst sogar nachvollziehen. Und trotzdem halte ich es für falsch und - vor allem - für politisch naiv und schädlich (was ohnehin quasi das gleiche ist).

Es ist nicht härter geworden
Hamburger Kessel 1986
Ich stimme schon bei der Analyse der Situation nicht überein. Denn ich bin schon alt genug (ok, Don Dahlmann auch), um mich an verbal und physisch sehr viel härtere Auseinandersetzungen zu erinnern. Ein Teil meiner Müdigkeit, mich mit Menschen ernsthaft zu beschäftigen, die eine in zentralen Dingen, die ich für zivilisatorisch relevant halte, von meiner allzu sehr abweichende Meinung haben (beispielsweise rund um Feminismus oder Israel), mag auch damit zusammen hängen, dass ich einfach schon zu oft und zu viel mit ihnen diskutiert habe in den letzten dreißig Jahren.

Aber härter oder unduldsamer ist die Diskussion nicht geworden aus meiner Sicht. Höchstens mag es so sein, dass Gruppen, die in den 80ern und 90ern sehr einfach aneinander vorbei gehen konnten, ohne sich wirklich zu sehen, einander jetzt - durch die Verschriftlichung und Auffindbarkeit ihrer eigentlich für intern gedachten und gesagten Diskurse - sehen. Das macht es mühsamer, aber die Idee, dass ich mich mit jeder rassistischen, misogynen, antisemitischen Idiotin freundlich, geduldig und argumentativ auseinandersetzen müsste, könnte oder auch nur wollte, ist mir ohnehin fremd - und finde ich tatsächlich absurd.

Der Entsolidarisierung begegne ich nicht mit Piep-piep-piep
Ähnlich ist es bei der - aus meiner Sicht: zutreffenden - Diagnose, dass eine Entsolidarisierung in der Gesellschaft zunimmt. Allerdings kann doch die Alternative nicht sein, dass wir uns voll doll lieb haben - sondern eher, dass Menschen, die der Entsolidarisierung Vorschub leisten, hart und härter angegangen werden. Seien es klassische Neoliberale oder solche, die Einheitsgewerkschaften fordern. Seien es Kinderhasserinnen oder solche, die meinen, Kinder sollten immer und überall alles dürfen.

Tatsächlich denke ich eher, dass die Auseinandersetzungen härter werden müssen, als sie es zurzeit sind. Tatsächlich mache ich mit klaren Grenzziehungen ("Toleranz endet mit z") gute Erfahrungen.

Härte in der Auseinandersetzung ist ein Zeichen, dass es Ernst wird
Ich halte es für politisch naiv und gefährlich, gegen harte und ausgrenzende Auseinandersetzungen zu sein. Denn emanzipatorische Veränderungen können nur über (harte) Auseinandersetzungen passieren. Und reaktionäre Veränderungen können nur über (harte) Auseinandersetzungen verhindert werden.

Um bei einem Beispiel zu bleiben: Zwischen Maskulinisten (und anderen reaktionären Vollpfosten) einerseits und Feministen und Feministinnen andererseits gibt es keine Möglichkeit eines Diskurses. Aus meiner Sicht gibt es nicht einmal eine Möglichkeit einer echten Koexistenz. Sondern diese Weltanschauungen "kämpfen" um die Deutungshoheit. Dass sich zurzeit die Reaktionäre schlauer anstellen als die fortschrittlichen Kräfte - geschenkt. Sie haben allerdings auch mehr zu verlieren.

Aber - und hier stimme ich, was ja nicht soooo oft passiert, Michael Seemann ausdrücklich zu - in diesem Kampf (und ja, es ist ein Kampf, und wer den durch Kritik an seiner Härte abzuschwächen sucht, nutzt in aller Naivität faktisch der Reaktion aus meiner Sicht) geht es um viel, weshalb er so hart geführt wird. Auf zwei Aspekte weist Michael Seemann hin, lest das mal, finde ich richtig: Zum einen auf den Kampf um die Plattformen. Und zum anderen auf die Isolierung der Bösen.

Böses muss auch böse genannt werden
Und bevor jemand schreit: das Wort "die Bösen" steht da bewusst. Denn wiederum halte ich es für naiv und für politisch dumm, aus falsch verstandener Duldsamkeit das Böse nicht als böse zu benennen. Call me Fundamentalist - aber Dinge wie Pegida oder Maskulinismus sind böse.

Hitler hat Autobahnen bauen lassen, im Stalinismus hatten alle einen Job, Nazis und Salafisten machen in von ihnen majorisierten Gegenden Sozialarbeit, Bild-Reporter schreiben mal einen Satz, dem ich zustimme.

Politisch aber ist Verhalten, wenn es solidarisch ist und berechenbare und belastbare Allianzen bildet. Eklektizismus ist unpolitisch. Flexible Haltungen und flexible Moral sind unpolitisch. Und darum entfloge ich zwar nicht jeder sofort, die einmal jemandes Tweet retweetet, die an sich böse ist. Und darum kann ich zivilisiert und höflich mit (intellektuell anspruchsvollen) Gegnerinnen in den großen gesellschaftlichen Konflikten dieser Zeit reden. Aber sie bleiben Gegnerinnen oder böse. Und da bin ich nicht flexibel.

Ja, Don Dahlmann, auch G.W. Bush hat sich auf den alten Weltkampf eingelassen, der klar zwischen für mich und gegen mich unterscheidet. Weil er politischer war als ihr alle zusammen. Und die Gesellschaft verändern wollte und es auch getan hat. Wer dem ausweicht und den Kampf, in den die Reaktion "uns" zwingt, nicht annimmt, ist meiner Meinung nach naiv. Ich kann euch trotzdem mögen. Und gut leiden.

14.4.15

Ein Dienstag

Dies ist ein ganz normaler Morgen. Und wenn ich ehrlich bin,  genieße ich, wie er ist. Trubelig, chaotisch, immer. Aber da ich voll berufstätig bin, ist die "Morgenschicht" die, die ich machen kann (wenn ich nicht reise).

Die eine oder andere Mitarbeiterin wundert sich, wenn um 6 Uhr schon mal Mails kommen, aber um kurz nach sechs geht es los: Frühstück zubereiten, Kinder motivieren, überhaupt etwas zu essen (oder wenigstens Milch zu trinken), den Engpass vor dem Kinderbad managen, jetzt, wo alle da morgens freiwillig Zeit drin verbringen mögen. Pausenbrote (einmal vegetarisch, einmal nur mit Wurst), Pausenapfel für die Kinder vorbereiten, verpacken, aufdrängen.



Und dann (meistens aber nicht, weil es meistens die Frau macht, wir teilen uns die Morgenpflichten auf) einmal mit dem Hund raus, während die Kinder frühstücken und sich anpflaumen und die anderen Tiere versorgen und - wenn sie gelaufen ist - die Spülmaschine ausräumen, denn das ist bei uns Kinderarbeit. Irgendwas müssen die ja auch tun.


Heute stand dann noch die Reifenkontrolle an, denn an Tertius' Fahrrad war der Hinterreifen platt. Wie eigentlich einmal die Woche bei einem der Räder. Naja, fast. Nicht ganz. Und auch merkwürdig, wie klein dann auf einmal die Kinder werden, die sonst schon so groß und selbstständig sind, irgendwie muss ich ihnen jedes Mal wieder zeigen, wie man einen Schlauch flickt und kontrolliert und den Reifen wieder aufzieht.

Sobald die Kinder dann vor die Tür gesetzt sind und auf dem Weg in die Schule, hole ich mein Rad und fahre zur U-Bahn. Durch den Volksdorfer Wald.




Überhaupt der Volksdorfer Wald. Einer der schönsten Wälder in der Stadt mit dem höchsten Berg weit und breit. Morgens durch den stillen Wald zu fahren, ist unbezahlbar. Spätestens hier fällt der Morgenstress ab.


Und schließlich: Buch rausholen in der U-Bahn. Freizeit bis Baumwall, etwas mehr als 30 Minuten, die ich mit Lesen (oder einem Hörbuch) verbringe. Wenn ich mich nicht (ungefähr drei Mal im Jahr) in eine Twitter-Diskussion mit irgendwem verstricke...

10.4.15

Nein. So nicht.

Am Sonntag stimmen wir Grünen in Hamburg darüber ab, ob wir mit der SPD die nächsten fünf Jahre zusammen regieren wollen. Wir hatten eine überwiegend gute Verhandlungskommission losgeschickt und die empfiehlt uns ihr Ergebnis und ein nicht quotiertes Personaltableau.

Ich werde beidem nicht zustimmen. 
Ob ich mich enthalte, mit Nein stimme oder nicht komme, weiß ich noch nicht genau. Aber dies sind die beiden Gründe und sie hängen miteinander zusammen.

1.
Sowohl inhaltlich als auch in den Ressorts, die wir "bekommen" sollen, rächt sich, dass wir Schwerpunkte gelegt haben, die ich nicht richtig finde. Zumindest nicht alle. Sehr gut ist aus meiner Sicht, wieder die Justizbehörde zu übernehmen. Da sind unter schwarz-grün gute Erfolge erzielt worden, auch wenn die medial nicht spektakulär waren. Ein wichtiges Ressort, das oft unterschätzt wird. 

Bei Umwelt aber waren wir schon weiter. Mindestens Verkehr, besser Infrastruktur muss dazu gehören. Oder - wie in Hessen und Rheinland-Pfalz - eben zusätzlich Wirtschaft (zumal die SPD da eh blank ist in Hamburg und seit Jahren stattdessen einen konservativen old-economy-Lobbyisten als "unabhängigen" Senator beschäftigt) oder wie in Schläfrig-Holstein Landwirtschaft. So ist es doch verschenkt. 

Dass wir aber einen unserer größten Schwerpunkte und auch das Ressort, das die stellvertretende Bürgermeisterin bekommt (Wissenschaft), am Befinden der Vorsitzenden ausrichten, obwohl sie auch anderes könnte, finde ich falsch und fand ich schon am Wahlkampf falsch. Die beiden Spitzenkandidatinnen ziehen sich, etwas leicht böse überspitzt in meiner Enttäuschung, in Wohlfühlbehörden zurück. Und der unterlegene dritte darf dann harte Politik machen.

Innen, Wirtschaft, Infrastruktur
Eines dieser Ressorts muss eine grüne Partei heute besetzen, sonst bekommt eine SPD sie eben nicht (mehr).

2.
Ich schätze, dass die Personal- und Ressortentscheidungen so unbefriedigend sind, hat auch damit zu tun, dass der Vertrag insgesamt nicht in einem Zustand ist, der mir die Zustimmung ermöglicht. Wir haben in einigen Bereichen gute Fortschritte gemacht - vor allem im Hafen, das ist sehr gut. Vor allem dieser Teil des Vertrages hat mich lange überlegen lassen, ob er allein nicht Wert wäre, alle anderen Punkte hintan zu stellen. Und es allein für die Ökologisierung des Hafens zu tun.

Aber ich kann nicht.
Schule und Olympia trage ich nicht mit.

Die unglaubliche Euphorie vor allem unserer Vorsitzenden Katharina Fegebank für Olympia teile ich nicht. Ich lehne ab, große Teile der inneren Stadt zu einem demokratiefreien Raum zu machen und öffentliche Sicherheit komplett zu privatisieren. Ich halte olympische Spiele für zurzeit nicht in einer Demokratie durchführbar. Und ich hatte den Diskussionsstand bei den Grünen auch deutlich differenzierter in Erinnerung. Eine ökologisch und sozial verträgliche Ausgestaltung kann nicht alles sein, wenn die Demokratie und die Freiheitsrechte auf der Strecke bleiben und weite Teile des öffentlichen Raumes (und nicht etwa nur der Sportstätten, was ich ok fände) faktisch privatisiert werden für diese Zeit.

Mein Hop-oder-Top-Thema aber ist Schule.
Schulpolitik ist mehr noch als Digitalisierung und Bürgerinnenrechte das, bei dem ich bei Menschen im Wort bin und das ich aus der Nähe beurteilen kann. Das ich für ein entscheidendes, wenn nicht das entscheidende Zukunftsthema für diese Stadt halte. Und da ist der Vertrag - dabei bleibe ich auch nach intensiven Diskussionen mit der Verhandlungskommission - eine Mogelpackung.

Mit Inklusion beschäftige ich mich lange und intensiv. Und obwohl der Vertrag dieses wie einen Schwerpunkt behandelt, ist das Ergebnis exakt das, was bereits vor der Wahl angeschoben wurde, was dem aktuellen Verwaltungshandeln entspricht - und womit bereits in dieser Woche, also vor der Koalition, begonnen wird. Mit anderen Worten: es ist die Fortschreibung dessen, was ich für ein Totalversagen des bisherigen Senats halte.

Obwohl der Vertrag formuliert, es würden für die Inklusion "120 zusätzliche Vollzeitstellen" zur Verfügung gestellt, meinen die Verhandlerinnen damit eine Umschichtung bestehender Stellen in die Inklusion - vor allem aus Effizienzreserven durch zurzeit teilweise zu kleine Klassen. Die Vorschläge zur Schulbegleitung von Kindern mit Förderbedarf klingen auf dem Papier auch ganz gut - meinen aber in der Realität vor allem 19-jährige, jährlich wechselnde, ohne jede Qualifikation (aber billig) bereitgestellte Kräfte.

SPD pur in der Schulpolitik kann ich nicht mittragen.
Das hatten wir die letzten Jahre.
Das zu ändern, habe ich Menschen motiviert, grün zu wählen.

***

Keiner meiner Schmerzpunkte wäre ohne die Grünen in der Regierung besser.
Es gibt Punkte (vor allem der Hafen), die wären ohne sie schlechter. Das muss ich abwägen. Ich weiß. Aber die Kombination aus zwei Themen, die mitzutragen ich nicht verantwortbar finde, und einem inhaltlich (Ressorts) und personell (Quote) nicht befriedigenden Senatsvorschlag verhindert, dass ich zustimmen kann. Was ich schade finde. Aber vielleicht geht es nicht anders angesichts einer SPD, die sich über Jahre hinweg hart erarbeitet hat, einen Scholz als Landes- und einen Gabriel als Bundesvorsitzenden verdient zu haben.