31.1.14

Geht alles doch

Dass sich Kinder und Karriere nicht vereinbaren lassen, ist eine Lüge. EINE ERWIDERUNG AUF MARC BROST UND HEINRICH WEFING
Der einzige Vorteil des Artikels ist, dass er zum Nachdenken anregte, nachdem ich mich wieder abgeregt hatte. Warum eigentlich immer in der "Zeit", die ich doch so sehr schätze? Schätze, weil sie Themen mit etwas mehr Ruhe angeht und einen eigenen Ton anschlägt. Und dann kommen die Heulsusen der nächsten Generation dauernd zu Wort mit ihrem Schmerzenesmännergesülze. Oder die Heulsusen meiner Generation. Wie gerade. Marc Brost und Heinrich Wefing. Namen, die ich oft höre, denn ich habe ein Abo des Audiomagazins der "Zeit", das ich auf dem Weg ins Büro höre. Und hier sind sie nun und schwadronieren darüber, dass es eine Lüge sei, dass sich Kinder und Karriere für Männer vereinbaren ließen.

Ganz ehrlich? Auch ich bin oft erschöpft. Und ich sitze immer wieder da und bin darüber verzweifelt, dass ich meinen eigenen Ansprüchen in beiden Hauptrollen meines Lebens nicht gerecht werde und zwischen ihnen zu zerreißen drohe: Dem Beruf, der mir unglaublich viel Spaß macht und mir unglaublich viel Befriedigung verschafft. Und der Familie, die ich liebe und die mir so unendlich wichtig ist.

Und trotzdem würde ich nie auf die Idee kommen, so einen Bullshit von mir zu geben, wie diese beiden Generationsgenossen. Denn ihre Behauptung, es sei eine Lüge, dass sich Familie und Karriere verbinden ließen, ist ein weinerlicher Selbstbetrug. Ich glaube, ich ahne, wie sie darauf kommen. Weil ich selbst immer wieder diese Anwandlungen habe. Bei denen - und das ist vielleicht mein großes Glück - meine Liebste mir den Kopf wieder zurechtzurücken pflegt. Oder manchmal auch meine Mitarbeiterinnen.

Damals, mit fast Mitte Zwanzig, als wir frisch verheiratet waren, haben sich in unserem Freundeskreis und unserem universitären Umfeld reihenweise Paare getrennt. Weil es nicht mehr prickelte. Weil sie die Vertrautheit und - ja, auch - Langeweile nicht ertrugen, die sich daraus ergab, dass sie sich so gut kannten und aufeinander einstellten.

Vielleicht habe ich das Glück oder hatten wir das richtige Gespür und Ahnen, die andere Reihenfolge zu wählen als viele andere meiner Generation. So dass ich knapp Mitte Vierzig bin, jetzt, wo Primus Achtzehn wird, Abitur macht und, wenn alles klappt, als Au Pair ins Ausland gehen wird. So dass bei uns der Beginn der Berufstätigkeit mit dem Beginn der Familienphase zusammen fiel. Obwohl wir dann ja noch drei Kinder nachlegten innerhalb von insgesamt rund zehn Jahren, also nun bei Quarta auch keine so richtig jungen Eltern mehr sind.

Vielleicht haben wir auch nur eine andere Haltung zu Erziehung, Leben und Selbstverwirklichung, dieser Geißel und Selbstgeißelungsmethode meiner Generation. Als Primus vier Jahre alt war, ist er allein durchs halbe Dorf (also den Stadtteil, da oben am Nordostrand von Hamburg) gegangen, wenn er zum Fußball wollte. Vom ersten Tag an gingen alle unsere Kinder alleine zur Schule, die beiden großen mehr als 25 Minuten zu Fuß. Dieses Helikopterelterndingens kenne ich nur aus der Zeitung. Vor allem aus der Zeitung, bei der die beiden Jungs arbeiten, die da so rumjammern. Kann aber auch Zufall sein, weil das ja die einzige Zeitung ist, die ich wirklich lese.

Jetzt gerade ist Freitagabend, nach 23 Uhr. Während ich dieses schreibe, läuft "Inni" von Sigur Ros auf dem Fernseher. Meine Liebste ist mit ihren Freundinnen unterwegs. Die beiden kleineren Kinder liegen im Bett, die beiden großen kommen gerade nach Hause und machen sich etwas zu essen. Und ich hardere nicht mit meinem Schicksal, denn so ist es von mir selbst gewählt. Aber vielleicht ist es auch einfach so, dass mir das, was Rachel Macy Stafford diese Woche in diesem wunderbaren Artikel in der Huffington Post schrieb, nicht so fremd ist. Sollten Brost und Wefing mal lesen. Und dass ich fast fünfzehn Jahre keine Bücher las und nicht im Konzert oder in der Oper war, ist eben so. Ich konnte es nach anfänglicher Wehmut ganz gut verschmerzen, denn ich habe es vorher ausführlich gemacht. Und beginne es jetzt wieder.

Es ist nicht immer leicht, beide Rollen wirklich und gut auszufüllen und dabei nicht den Orden der Unbegabten zu bekommen, als den Reinhard Sprenger einmal Stress bezeichnet hat. Aber das, was ich mit meinem krummen Berufsweg hingelegt habe, kann man schon durchaus als Karriere bezeichnen. Ebenso das, was meine Liebste gemacht hat. Beide haben wir es nicht so geplant. Beide haben wir Unterbrechungen der Karriere gehabt. Beide haben wir immer wieder nachjustiert. Und uns einige Jahre entschlossen, ein Au Pair aufzunehmen, damit Karriere und Kinder besser zugleich gehen.

Und dennoch sind wir hin und wieder am Ende. Worauf wir achten, ist, dass die andere ruhig wird und den Überblick behält, wenn der eine seinen monatlichen Depritripp hat. Vielleicht wäre ich auch so verzweifelt wie die beiden Jungs von der "Zeit", wenn ich nicht immer wieder so glücklich wäre. Und wenn es vor allem nicht - trotz aller auch immer wieder unbefriedigenden Situationen - auch meine Liebste wäre.

Und wenn wir den Eindruck haben, dass wir reden müssen, dass wir Zeit zu zweit brauchen, dann gehen wir in die Sauna. Zweimal in der Woche. Und reiten gemeinsam aus. Mindestens einmal in der Woche. Zeit, die wir uns nehmen, die uns die Kinder schenken. Die für sie selbstverständlich ist. In der wir beide jeweils beide Hände brauchen und das mobile Internetzugangsgerät in der Hosentasche (beim Reiten) oder draußen (beim Saunen) bleiben muss.

Vielleicht ist es auch einfach so, dass wir nicht hadern, dass wir Taxi sind und in Sporthallen stehen oder am Reitplatz. Dass wir nicht den Eindruck haben, unser Leben zu verpassen oder uns nicht selbst zu verwirklichen. Vielleicht, weil wir beide Berufe haben, die wir mögen und die Verwirklichung sind, was, ich weiß, ein Privileg ist. Und dass wir beide schon jeweils und mehr als einmal etwas genau daran geändert haben in den letzten zwanzig Jahren, wenn das so nicht mehr war.

Und dann ist es auch kein Problem, wenn ich am Abend noch einmal arbeite oder am Wochenende. Weil ich es absprechen kann. Weil es nicht jede Woche vorkommt. Weil ich auch mal durchatme. Weil ich vom Leben nicht nur Rosinen erwarte oder dass es unentwegt prickelt.

Kinder und Karriere sind vereinbar. Für Väter und Mütter. Wenn sie es wollen und bereit sind, glücklich zu sein. Im Gegenteil: Gerade wenn wir Karriere machen, wird es ja einfacher. Ohne Karriere hätte die Wohn- und Einkommenssituation nie zugelassen, dass wir ein Au Pair haben. Oder Pferde.

Und heute reiten alle vier Kinder.

19.1.14

Hamburger gegen Gewalt

oder: Wie eine unheilige Allianz aus Hamburger Abendblatt und SPD-Innenpolitikern eine gute, bürgerschaftliche, hanseatische Idee zu einem Propagandainstrument umfunktioniert hat.
Es gab einen Zeitpunkt in den letzten Wochen, da hatte ich Hoffnung. Die Hoffnung, dass es gelingen könnte, alle diejenigen zusammenzubringen, denen Zusammenhalt und Liberalität in dieser Stadt wichtig sind. Zwar wurde dieser Zeitpunkt ironischerweise aus einer Lüge geboren, aber so ist das ja oft im Leben.

Unmittelbar nach der Lüge der Polizeipressestelle rund um Krawalle und einen angeblichen Angriff auf die Davidwache, das Symbol der "guten Polizei" in Hamburg (und das bis weit in polizeikritische und linksradikale Kreise hinein), gab es zwei Bewegungen:

  • Die eine, maßgeblich getrieben vom Hamburger Abendblatt und den SPD-Politikern Dressel (Fraktionsvorsitz) und Neumann (Senator), nahm die Vorlage auf, indem die Solidarität mit der Polizei einforderte und versuchte, alle Stimmen, die sich kritische zur taktischen und politischen Führung der Polizei äußerten, zu kriminalisieren. 
  • Und die andere, die den Schock bis in eben diese Gruppen mit eben diesen Stimmen nutzte, um eine Allianz zu schmieden, die sich zu Gewaltfreiheit bekennen würde - und damit sowohl den Staat als auch die Protestierenden meinte.
Die zweite Bewegung wurde von Jens Kerstan angestoßen, den Fraktionschef der Grünen. Ich bin ja nun, obwohl auch Grüner, alles andere als ein Freund und Unterstützer von Jens - aber hier hat er es genau richtig gemacht. Er bekam für seine Idee "Hamburger gegen Gewalt" sogar viel Raum im Abendblatt. Und kurz sah es so aus, als könnte seine Initiative Erfolg haben. Als könnte sich erstmals seit Dohnanyis beherztem Eingreifen 1987 (übrigens gegen seinen Innensenator Pawelczyk und seinen Fraktionschef Voscherau) im Hafenstraßenkampf wieder die liberale bürgerliche Vernunft gegen die Betonfraktion durchsetzen.

"Hamburger gegen Gewalt" hätte ein Aufschrei der Stadt gegen die Gewalt der Straße sein können. Gegen Menschen, die jedes Maß in der politischen Auseinandersetzung verloren haben, und gegen Menschen, die qua Exekutivmacht über Recht und Gesetz zu stehen glauben.

Nach etwas mehr als einem Tag ist dann das Abendblatt zurück gerudert. Und nach einigen wenigen Tagen haben die Innenpolitikerinnen der SPD-Fraktion erstmal vorsichtig und dann immer offensiver vorgefühlt, ob sich die Idee von "Hamburger gegen Gewalt" nicht doch umdeuten lässt.

Seit klar ist, dass sich SPD und Abendblatt nicht darauf einlassen werden, einen Konsens mit den liberalen Kräften der Stadt zu suchen, gehen sie wieder in die Offensive. Der Versuch von Jens Kerstan, in Gesprächen mit den anderen Fraktionen zu einem gemeinsamen Aufruf oder gar einer gemeinsamen Demonstration seine Idee noch einmal wiederzubeleben, kann als gescheitert gelten. Jede Kritik an der Führung der Polizei ist aus der Berichterstattung über "Hamburger gegen Gewalt" verschwunden. Und jede Äußerung von Dressel und Co zeigt, worum es denen geht, die "Hamburger gegen Gewalt" jetzt vorantragen: Darum, jede Kritik an der Polizei als Unterstützung von Gewalt zu brandmarken. Und abzulenken von den sozialen und Demokratieproblemen in dieser Stadt und vor allem abzulenken vom politischen und taktischen Versagen der Polizeiführung. Im Gegenteil - der Innensenator kettet sich sogar an die Polizeiführung und stellt sich hinter sie anstatt selbst Führung zu übernehmen und mit einer demokratischen Position voranzugehen.

So ist aus einer guten Idee - "Hamburger gegen Gewalt" - eine Bekennerinnenkampagne für den Polizeistaat geworden. Eine explizite und bewusste Unterstützung einer Polizeiführung, die gegen geltendes Recht und Beschlüsse von Gerichten Fakten zu schaffen versucht. Eine Unterstützung der Eskalationsstrategie, die versucht, kritische Stimmen zu kriminalisieren und als Unterstützung von Gewalt zu erklären. 

Der harmlos klingende Aufkleber "Hamburger gegen Gewalt", der dieses Wochenende dem Abendblatt beilag, ist alles andere als harmlos. Wer immer ihn nutzt und sich irgendwo hinklebt, sollte sich bewusst machen, wer hinter der Kampagne steckt, was das Ziel der Kampagne ist und wem sie nützt. Wer immer den Aufkleber nutzt, bekennt sich zum Versuch, in Hamburg Fakten auf dem Weg in den Polizeistaat zu schaffen. 

Ich will das nicht. Und ich will nicht, dass diese Stadt in jene Illiberalität abgleitet, die die Polizeiführung repräsentiert und zu der sich Neumann und Dressel bekennen. Bei aller Kritik im Detail mag ich diese Stadt und auch dieses Land zu sehr, um es ertragen zu können, wie Recht und Liberalismus immer weiter ausgehöhlt werden. "Hamburger gegen Gewalt" ist gescheitert. Zurück bleibt der Versuch, die Aushebelung politischer Prozesse durch Eskalationsstrategien der Exekutive zu einer Hegemonie zu nutzen, die jede Kritik als einen Akt der Gewalt und der Widerstandes erscheinen lässt. 

Wer den Aufkleber nutzt, bekennt sich zu dieser Politik. Naja, müsst ihr selbst wissen, in wessen Gesellschaft ihr euch begeben wollt.

18.1.14

Eine Bischöfin muss auf Facebook sein

Dies ist ein Beitrag, den ich für die Evangelische Zeitung geschrieben habe, die dieses Wochenende erschienen ist. Er ist Teil eines Pro und Contra zu diesem Thema. Das Contra hat Lars Harden geschrieben.
Ob die Bischöfin zum Empfang der Landesregierung geht oder der Regionalzeitung ein Interview gibt, kann sie nicht anhand von Sympathie oder Lust entscheiden. Es gehört zu ihrem Job. Denn egal, ob wir es (theologisch) gut finden oder nicht: die Bischöfin ist eben nicht nur Pfarrerin – sondern in und mit ihrem Amt ein Symbol für Kirche, sozusagen der Kirchturm, den ich auf dem Markt der Meinungen und Deutungsangebote von überall her sehen kann.

Darum haben Bischöfinnen Briefe geschrieben, die von den Kanzeln verlesen wurden. Darum geben sie Interviews in Radio und TV. Darum ist ihre Weihnachtspredigt nicht nur eine von vielen Predigten. Und darum muss eine Bischöfin auf Facebook sein.

Denn Facebook ist heute ein Raum, in dem die Mehrheit der Erwachsenen in diesem Land sich mindestens hin und wieder aufhält (und übrigens nicht, wie oft gedacht, die Jugendlichen, die sind schon weitergezogen). Und egal, ob wir oder die Kirche oder unsere Datenschützer das gut finden oder nicht – Facebook ist ein Raum, in dem viele erwachsene Menschen in ihrer Freizeit gerne sind. In dem sie sich mit Menschen unterhalten, die sie kennen. In dem diejenigen, die keine gedruckte Zeitung (mehr) lesen, einen großen Teil ihrer Nachrichten beziehen, weil sie da jemand verlinkt, also weitersagt. In dem sie Personen, Marken, Stars, Institutionen erlauben, ihnen zu sagen, was gerade passiert – und bei ihnen „gefällt mir“ klicken.

Facebook ist darum heute für die Kirche ein idealer Raum für Mission. Menschen sind aufnahmebereit, können emotional angesprochen werden. Wer Mission als die Mischung aus Rausgehen mit der Botschaft auf den Markt einerseits und einer offenen Tür mit niedriger Türschwelle andererseits begreift, wird und kann einen der größten Marktplätze und eine der weitesten Türen nicht ignorieren, die uns kommunikativ heute zur Verfügung stehen.

Eine Bischöfin ist eine Person der öffentlichen Lebens und der öffentlichen Verkündigung. Neben den anderen und schon länger etablierten Kanälen ist Facebook eine gute Möglichkeit, ihren Auftrag zu erfüllen: Nähe zu zeigen, die persönlich aber nicht privat ist, Botschaft und Positionen zu formulieren und ansprechbar zu sein, ohne sich vereinnahmen zu lassen.

8.1.14

Zur Gewaltdiskussion in Hamburg

Geht doch rüber.

Vielleicht liegt es daran, dass Nico Lumma doch ein bisschen jünger ist als ich und er diesen Satz nie gehört hat. Vielleicht war er als Juso auch nur nicht so links wie ich. Aber sein Text, Rant, Aufschrei, wasweißich zur innenpolitischen Situation in Hamburg liest sich für mich in weiten Teilen wie

Geh doch rüber.

Für die jüngeren hier: So wurde in meiner Jugend von sehr vielen Leuten geantwortet, wenn jemand der Auffassung war, dass sich das eine oder andere sehr grundsätzlich in diesem Land (damals: Westdeutschland oder auch BRD) ändern sollte:

Geh doch rüber.

Nico ist nicht dumm und nicht rechts, darum formuliert er es anders:
...ich sehe Verbesserungspotential, aber im Vergleich mit anderen westlichen Demokratien sind wir echt fein raus hier.
Die Sache mit der Gewalt gegen den Staat
Geh doch rüber.

Das immer schon perfide (sorry) dieser Argumentation war, dass es keine Argumentation ist. Ebenso wie das strukturell gleiche "Argument", wer gegen polizeistaatliche Methoden wie den Ausnahmezustand (hinter dem Link eine sehr gute Einordnung des "Gefahrengebiets" durch den linksradikaler Umtriebe unverdächtigen Zeit-Redakteur Biermann) ist, sei für die Krawallmacher oder verteidige sie oder fände das gut oder so was. Sondern es ist die Ansage:

Geh doch rüber.

Ich habe ja in der Familie einige Polizisten und ehemalige (pensionierte) Polizisten. Und kenne auch sonst einige. Darunter auch welche, die in ihrer Zeit in den Einsatzhundertschaften Eskalations- und Deeskalationsstrategien miterlebt und mitgemacht haben. Und welche, die mehr als einmal auf ihre Remonstrationspflicht zurück gekommen sind. Oder einem Kollegen ein Bein stellten, der in einer Situation wie der am 21.12. angreifen wollte. Keiner von denen ist übrigens in Hamburg.

Ich habe einige in der Familie, die in den 70ern und 80ern als Ordnerinnen ausgebildet wurden, um bei Demonstrationen deeskalierend zu wirken und Demoleitungen zu übernehmen. Alle übrigens bezahlt und geschult von der SDAJ. Womit wir angesichts der Finanzierung dieser Kader wieder am Anfang wären.

Geh doch rüber.

In meiner Familie gibt es in der Generation nach mir einige, die aufgrund ihres Styles sehr regelmäßig anlasslos von der Polizei kontrolliert werden. Darunter auch Polizistensöhne in der Provinz. Denen das Klima des Misstrauens und die Aggression der Exekutivkräfte (wo immer die herkommen mag, und sei es aus Angst) eine Haltung vermittelt, sie und ihre Vorstellungen vom Leben und vom Chillen und vom Feiern seien in diesem Land nicht erwünscht. Denen die Vertreter (meist ja Männer in ihren Fällen) der Exekutivkräfte (Polizeien und Sicherheitsdiensten der Bahnen) klar und nachhaltig und in Wildwestmanier (Vorzeigen der Waffen) vermitteln, dass der Staat freundliche, hilfsbereite, politisch interessierte Jungs, die optisch, olfaktorisch und akustisch von der Norm ihrer Eltern abweichen, mindestens ablehnt, in vielen Fällen sogar bedrängt.

Gerade weil ja sehr oft von jugendlichen Krawalltouristen die Rede ist, auch von intelligenten Menschen wie Nico, ist die Erfahrung schon interessant, die ich mit vor allem durch anlasslose Polizeiaggressivität politisierten Jugendlichen vom Lande habe. Denen faktisch die entsetzten Blicke der Bürgerinnen und das martialische Auftreten der Exekutivkräfte immer wieder sagen:

Geh doch rüber.

Ehrlich gesagt habe ich an (erwachsene) Beamte, die ausführlich in Demokratie geschult, auf Verfassung und Gesetze vereidigt und in Bezug auf ihre Remonstrationspflicht ausgebildet wurden, einen anderen Anspruch an Deeskalationswillen und Deeskalationsfähigkeit als an Jugendliche in der schlimmsten Phase ihrer Testostronverwirrung. Und ich will die Erwachsene (insbesondere mit Kindern) sehen, die mir nicht zustimmte, dass wir hier nicht mit gleicherlei Maß messen dürfen.

Das alles hat noch nichts damit zu tun, ob ich Gewalt als Mittel der Politik oder grundsätzlich ablehne oder nicht. Das alles hat nichts damit zu tun, ob ich diesen Staat für demokratisch halte oder nicht. Ob ich die Regierung dieser Stadt und dieses Landes für demokratisch halte oder für technokratisch. Darüber kann und will ich mich streiten. Über alle diese Fragen. Und die meisten habe ich für mich selbst noch nicht entschieden, schon gar nicht endgültig.

Komm doch mal rüber. 

Lass uns reden. Und für eine demokratische Gesellschaft streiten. Denn in einem stimme ich Nico zu. In seinem Schlusssatz.
Ich finde, dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung ein schützenswertes Gut ist und ich möchte nicht, dass hier das Recht der Straße gilt und gewalttätige Randalierer ihre Forderungen durchsetzen können.
Auch wenn mich der Eindruck beschleicht, dass er damit nicht so wie ich die Polizeiführung meint. Komisch.

4.1.14

Zu R. Pofalla, G. Schröder und Co

Am Ende seines Gedichts "Die Vision" schrieb Ernesto Cardenal die Zeilen, die den endgültigen Kommentar zu Pofalla und vor ihm von Klaeden und Schröder und so darstellen.

Ich singe ein Land,
das bald geboren wird.
Nur der Mensch,
der Mensch muss noch kommen.
Kommunismus oder
Gottes Reich auf Erden,
das ist gleich.

Wir sind noch nicht
im Festsaal angelangt,
aber wir sind eingeladen.
Wir sehen schon die Lichter
und hören die Musik.

3.1.14

Gleich am ersten Tag einen Vorsatz umgesetzt

Für dieses Jahr habe ich mir vorgenommen, häufiger klarer zu sagen, wo ich finde, dass jemand eine Grenze übertritt, die ich für wichtig halte. Denn wie meine Liebste immer sagt: Toleranz endet mit z. Und gleich am 1. Januar hatte ich Gelegenheit dazu.

Ich beschwerte mich mehr oder weniger launig bei Twitter darüber, dass ein Nachbar nachts um 4.00 Uhr in dem Moment sein Privatfeuerwerk für eine gute halbe Stunde begann, als gerade alle anderen ins Bett gegangen waren. Und jemand anders fand, das sei ein grandioses Statement des Selbstbewusstseins. Und diese Person war auch noch Coach für Selbstbewusstsein.

Ha! Eines meiner Lebensthemen. Ein Mensch, der Selbstbewusstsein (oder Selbstverwirklichung, so hieß das entsprechende Modewort in den 80ern) mit Egoismus verwechselt. Ich kann verstehen, dass es oft und für viele nötig ist, ihren Weg und auch ihr Selbstwertgefühl und im Wortsinne das Bewusstsein ihrer Selbst, das Selbstbewusstsein (was ja eigentlich nur aber eben doch Selbsterkenntnis meint), zu finden. Schlimm und antisozial wird es, wenn das in Solipzismus mündet, also in ein (wie Luther es nannte) "in sich gekrümmtes Herz", das zuerst sich selbst sieht - und sich selbst für wichtiger hält als die anderen. Was ich dann auch lautstark einwarf auf Twitter. So wegen Vorsatz und so.

Ernesto Cardenal a la Chascona
Ernesto Cardenal
Vulgarismus und Brutalismus mag ich maximal in der Architektur ertragen. Vulgäre Lebenshilfen und vulgäres Coachen dagegen finde ich eklig und gefährlich. Nichts ist so wichtig wie die Achtsamkeit für die anderen. Kein Statement, kein vermeintliches Selbstbewusstsein, das doch nur egoistische Brutalität ist, kann so wichtig sein, darüber die Rücksicht auf andere zu vergessen.

Oder, wie es der große Priester und Dichter Ernesto Cardenal, eines der ewigen Idole meiner Jugend, in seinem wunderbaren Zyklus "Leidenschaft unendlich" ausdrückte:
Der Mensch ist eine Erfindung der Liebe.
Der Mensch wurde geschaffen zum Lieben.
Wir sollen unseren Nächsten mehr lieben als uns selbst,
weil der Egoismus den Liebesstrom unterbricht.
Da kann es mir schon passieren, die Liebe zu vergessen und das Z in der Toleranz zu finden.