7.5.14

Kontinuität und Widerstand

Ich interessiere mich schon lange mehr für die Kontinuitäten als für die vermeintlichen Brüche in der Geschichte. Gerade die (biografischen) Linien über Umbrüche hinweg sind mir spannende Forschungsfelder gewesen. Als ich 1991 bei Werner Durth eine unglaublich dichte und inspirierende Sommerakademie zu Städtbau besuchte, habe ich erstmals einen Historiker kennen gelernt, der dieses methodisch so machte. Sein Buch Deutsche Architekten (Leseempfehlung!) habe ich verschlungen und mehrfach gelesen.

Kontinuität
Ähnlich ging mir das mit dem für mich inspirierendsten Buch der letzten Monate: Writing on the Wall von Tom Standage. Kernthese des Buchs, der ich zustimme übrigens: Social Media ist uralt und die "Normalform" von Mediennutzung über die letzten zwei Jahrtausende gewesen - von der zeitlich fast zu vernachlässigenden kleinen Unterbrechung der letzten 150 Jahre seit der Gründung der ersten Massenzeitung 1843 einmal abgesehen, in der das "Broadcast-Modell" kurz einmal vorherrschte.

Was ich so unglaublich erleichternd und erhellend an Standages Buch finde, ist eben dieser Blick in größeren Zusammenhängen und Linien auf ein Phänomen, das Teilen meiner Generation immer noch Angst macht. Und auf die Komik, mit der sich bei jeder (medientechnischen) Weiterentwicklung die selben Argumente wiederholen. So wie Plato schon gegen Schriften wetterte, weil sie das Denken und Argumentieren schädigten. So wie Erasmus gegen die Druckerpresse wetterte, weil es die Leute dazu verleite, zeitgenössische Schriften und nicht die Klassiker zu lesen. So wie im 17. Jahrhundert gegen die Kaffeehäuser gewettert wurde (aus denen die meisten Erfindungen, Erkenntnisse inklusive Newtons Durchbruch, und bis heute wichtigen Firmen wie die Londoner Börse oder Lloyd's of London stammen), weil die die Studenten und Kaufleute zu Müßigang und mangelnde Produktivität verführten und so weiter. Kennt ihr ja alle, die Argumente.

Und so, wie die historischen Linien in der größeren Sicht spannender werden und Menschen, die sich auch nur rudimentär mit Geschichte und Geistergeschichte beschäftigt haben, angesichts vieler "Diskussionen" heute nur resigniert mit den Achseln zucken lassen, so ist auch der Blick auf Analysen und Begründungen von Widerstand interessant, die es vorher einmal gab.

Widerstand
Darum ist - für mich tatsächlich überraschend, auch wenn ich ihm inhaltlich ja fast immer zustimme, schließlich sind wir eigentlich geklonte Geschwister (sagt man das so?) - Sascha Lobos diesjährige re:publica-Rede der zweite Inspirationspunkt dieses Monats. Zumal er sich an einer entscheidenden, wenn nicht der entscheidenden, Stelle auf den aus meiner Sicht größten Gesellschaftsphilosophen des 20. Jahrhunderts bezieht: Herbert Marcuse. Ich bin mir, auch nachdem ich mit ihm kurz darüber sprach, nicht zu 100% sicher, ob er sich wirklich der disruptiven Kraft bewusst ist, die sein Verweis auf Marcuse in der Diskussion bedeuten kann.

Secundus und sein PferdAber es ist wohl kein Zufall, dass Secundus, noch 16 Jahre alt, sich Marcuses aus meiner Sicht wichtigstes Buch Der eindimensionale Mensch (Lesebefehl! Echt jetzt!) am letzten Wochenende aus meinem Bücherschrank nahm und begonnen hat, es mit Genuss zu lesen. Er trägt ja auch eine ähnliche Frisur wie der Herr Lobo, wenn auch aus anderen Gründen.

Marcuse war schon in der Generation meiner Eltern einer der wichtigsten Denker und Argumentierer des Widerstandes. Und ein brillanter Analytiker von Gewalt (die nach seiner Definition immer nur aus einer Machtposition heraus ausgeübt werden kann, weil das, was andere Gewalt nennen oder Terror, wenn er nicht aus der Führungsmacht der Elite heraus kommt, eben keine Gewalt sei sondern Widerstand) und der Macht in den Strukturen und Technologien. Was ja auch der Punkt ist, den Sascha anspricht und von ihm aufgreift.

Manchmal wünsche ich mir, dass die Diskussion über die Sicherheitsesoteriker und Kontrollfanatiker mit mehr historischen Kenntnissen geführt würde. Eine Lektüre von Standages Buch (kommt wohl dieses Jahr noch auf deutsch raus) und das Ansehen von Lobos Rede kann dazu der erste Schritt sein. Und wer richtige Lektüre ertragen und verstehen kann, sollte dringend Marcuse lesen.

Und dann reden wir weiter, ok?




Update 8.5.:
In dem Sinne: Weitermachen
(Hinweis auf das Bild fand ich bei André Vatter, der es anders sieht als ich)

2 Kommentare:

  1. Anonym8.5.14

    Danke für das interessante Posting und vor allem für die Bemerkungen zur Kontinuität. Lehrerhafte Randbemerkung eines alten Erasmusfans: Erasmus hat sein Leben lang für Verlage gearbeitet und die Druckerpresse als ein "beinahe göttliches Instrument" bezeichnet (http://de.wikipedia.org/wiki/Adagia#Entstehung). Ich stelle mir ganz gerne vor, was er heute machen würde.

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    1. Ja, einerseits - andererseits hat er sich wie fast alle fast immer darüber mokiert, dass ausgerechnet die falschen Leute das falsche veröffentlichen und sich besorgt über die Folgen für die Bildung geäußert. Quelle such ich raus.

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