29.12.14

Systemparteien, Lügenpresse

Auf Facebook und Twitter habe ich den einen oder anderen Versuch unternommen, über Pediga* und mit Pegida-Versteherinnen zu diskutieren, auf viele Artikel verlinkt, oft den virtuellen Kopf geschüttelt. Und - man höre und staune - ein bisschen nachgedacht. Das dann auch an anderen Orten. Und die letzten Tage auch an der einen oder anderen Stelle in der Kohlenstoffwelt darüber gesprochen. Übrigens erstaunlich wenig, weil eigentlich alle, denen ich begegnete, ungefähr einer Meinung waren und diesen Pegida-Mob auch tatsächlich uninteressant und irrelevant fanden.

Ratlos stehe ich tatsächlich vor dem Phänomen, dass hier Menschen sich ungehört und nicht wahrgenommen fühlen, obwohl sie fast schon unangemessen viel Raum in der Berichterstattung und unangemessen viel Beachtung (jetzt auch hier) bekommen. Ähnlich wie die reaktionären Publizisten, die etwas "ja wohl mal sagen dürfen müssen", was irgendwie unangemessen oft überall gesagt wird, von dem sie aber glauben, dass es niemand sagen darf in diesem Land und seinen Medien.

Drei Gedanken machten sich in mir die letzten Tage immer breiter, so dass sie raus müssen. Neben der Frage, ob diese Menschen, die den Mob der Straße bilden gerade, ob die vielleicht von ihren Müttern oder Vätern nicht geliebt wurden. Ob ihnen die Nähe und das Kuscheln fehlte. Ich weiß es nicht, meine ich auch nicht zynisch. Aber ich kann mir die große, epische Grundverunsicherung kaum anders erklären als damit, dass das Grundvertrauen fehlt. Und ich werde das nicht Weiterpsychologisieren. Auch nicht, ob es Zufall ist, dass es sich in Dresden Bahn bricht.

1. Sorgen Ernst nehmen?
Immer mehr kritische, nachdenkliche Stimmen kritisieren das Medien- und Politik-Sprech vom "Ernst nehmen der Sorgen" dieses Mobs. Tatsächlich halte ich das auch schon von Tonfall und Wortwahl für falsch und gefährlich.

Ja, ich muss versuchen, die Ängste und Ressentiments dieser Menschen zu verstehen (im Sinne von: nachzuvollziehen). Aber "Sorgen", die aus einer Mischung aus Verschwörungsdenken und Ressentiments entstehen, kann niemand Ernst nehmen, der dieses Land und seine Menschen am Herzen liegen.

Dass es eine große Minderheit gibt, immer schon gegeben hat, die Verschwörungstheorien glaubt und weiter verbreitet, ist ja nicht neu. Das gehörte auch schon zum 20. Jahrhundert dazu. Von der Weltverschwörung des Judentums oder der Freimaurer über die Dolchstoßlegende bis hin zum Verrat der katholischen Kirche, die unter dem Kölner Dom ihren Goldschatz versteckt habe, den sie im großen Krieg 14/18 nicht rausgerückt habe, weshalb (und so weiter). Die meisten werden solche Menschen in ihrem Bekanntenkreis haben, die meisten davon sind harmlose Teilspinnerinnen. Und (siehe Punkt 2) meistens eingehaust. Und (siehe Punkt 3) nicht mit Argumenten zu überzeugen.

Das Tolle an Verschwörungstheorien (und ja, ich fand auch mal die eine oder andere davon toll, sei es Gesells Freiwirtschaftsidee, deren Logik auf einer Verschwörungstheorie basiert, oder rund um 9/11) ist ja, dass sie per definitionem nicht widerlegbar sind. Weshalb sich da auch aktuell der Kreis zur "Lügenpresse" schließt: Teil der Verschwörungstheorie ist ja, dass es eine Verschwörung gibt, zu der sich alle die verschworen haben, die gegen die Theorie sprechen.

Wer "Sorgen" von Menschen Ernst nimmt, die auf Verschwörungen besieren, die ihre Ressentiments bestätigen, kann nur verlieren - und infantilisiert die Diskussion. Das heißt nicht, dass alle diese Menschen Idioten sind oder Nazis. Sondern nur, dass sie nicht ansprechbar sind. Und nicht Ernst genommen werden können.


2. Die Leistung der Parteien bis vor Pediga
Bei den Pegida-Versteherinnen auf der konservativen Seite kommt immer wieder ein Argument, das so bestechend wie absurd ist: Es gebe ja unter Anhängerinnen aller Parteien (auch von SPD und Grünen, bei den Linken sowieso) einen großen Prozentsatz, der den "Anliegen" (welchen eigentlich?) von Pegida zustimme.

Ja, sag nur! Echt?

Was dieses "Argument" verkennt, ist doch aber gerade, dass es - bis vor Pegida und, so schätze ich, auch bald wieder nach Pegida - den klassischen Parteien gelingt, diese Teilspinnerinnen zu binden und "einzuhausen". Wer sich mit Weltbildern und Ressentiments in Deutschland beschäftigt, wird schnell entsetzt sein, wie groß der Anteil derer ist, die ein verfestigtes rechtsextremes Weltbild haben - ohne jemals rechtsextrem zu wählen oder auf die Straße zu gehen. Je nach Studie und Methode sind das bis zu 40% der Erwachsenen, bei jungen und alten mehr als in mittleren Altersgruppen.

Die besondere Leistung unseres politischen Systems - und hier besonders eine Leistung von CDU, Linken und SPD - ist es, diesen Menschen einen Ankerpunkt zu geben, der ihre dunkle Seite nicht durchdringen lässt. Ich habe nie so viele echte Rechtsradikale erlebt wie in Hamburger Ortsvereinen, als ich noch in der SPD war. Das sage ich ganz ohne Zynismus (heute, damals hat mich das erschreckt). Darum ist die AfD ja auch so gefährlich - weil sie die Chance sieht und hat, diese Menschen aus den bisherigen Parteien herauszubrechen.

Darum kann ich die Panik und Unsicherheit der Parteien verstehen. Da haben es beispielsweise die beiden großen Kirchen einfacher, weshalb sie sich auch klarer geäußert haben (auch wenn der liberale Bischof Bedford-Strohm aus München etwas brauchte, bis er zur Klarheit fand).


3. Isolieren statt umarmen
Was gerade stattfindet, ist keineswegs neu oder singulär. Wir hatten das zuletzt in den 90ern. Rostock, Solingen, Mölln, erinnert ihr euch? Der Mob in Rostock, der applaudierend und sich einpischernd neben den Mördern stand, ist so unähnlich nicht dem, was wir zurzeit auf den Straßen laufen sehen. Auch die Parolen sind nicht so unähnlich. Und auch die Umarmungsversuche vor allem der Konservativen sind so unähnlich nicht.

Der Spuk verschwand in den 90ern von den Straßen, nachdem die SPD unter Engholm umkippte und das Asylrecht zusammen mit der Regierung abschaffte - und nachdem es die großen Lichterketten gab, in denen Menschen aufstanden und dem Mob zeigten, dass er nicht die Macht auf der Straße ist.

Was ich aus den 90ern lerne, ist, dass die vielen "Latenznazis", wie etwas polemisch Sascha Lobo den Mob aus "normalen" Menschen nennt, die da rumlaufen, nicht durch Umarmung wieder in die Zivilisation zurück zu bekommen sind. Sondern nur dadurch, dass wir sie aktiv und konsequent ausgrenzen.

Ich erlebe, wie meine jugendlichen Kinder intuitiv genau das Richtige tun gerade. In ihren Kreisen gibt es jeweils einzelne, die Pegida-Dinge nachplappern oder auf Facebook weitersagen. Da gibt es dann eine (einzige!) klare Ansage mit dem Hinweis, was sie da tun (einigen war das gar nicht bewusst und sie kamen kleinlaut und voller Reue zurück) - und dann werden sie, falls sie nicht sofort umkehren, aktiv und nachhaltig ausgegrenzt.

Das können nur Menschen, die direkte Beziehungen zu welchen haben, die im Mob mitlaufen oder ihn gut finden. Aber das scheint mir erfolgversprechend (wenn wir nicht den Weg der Symbolpolitik gehen wollen, auf Kosten eines vom Mob auserwählten Sündenbocks die Lage zu beruhigen wie damals in den 90ern). Ein klarer Warnschuss aus dem nahen Umfeld. Und dann eine konsequente Isolation.

Denn die latenten, die nicht überzeugte rechtsextreme Aktivistinnen sind, wollen dazu gehören. Wollen nicht ausgegrenzt sein, halten sich für "das Volk". Das ist ihr wunder Punkt. Siehe oben die Vermutung mit den Müttern und Vätern.

Wer einmal versucht hat, mit AfD-Leuten oder anderen Verwirrten zu diskutieren (Pegida haben wir in meinem Speckgürtel nicht), weiß, dass das nicht geht. Siehe oben, die Sache mit der Verschwörungstheorie. Mein einer Sohn hatte nach drei erfolglosen Versuchen überlegt, ob er (jetzt ist ja gerade beginnender Wahlkampf in Hamburg) AfD und NPD auf die Wahlkampftische kackt. Er hat sich überzeugen lassen, dass das eine nicht so elegante Idee ist. Stattdessen hat er sich vorgenommen, auf sie zuzugehen, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. Und sie zu fragen, ob ihre Mutter sie nicht geliebt hat.

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* Für die Zeit, in der dieses Wort wieder verschwunden ist: So nannte sich Ende 2014 eine ressentimentgetriebene "Bewegung", die vor allem aber nicht nur in Dresden teilweise mehr als zehntausend Menschen auf die Straßen trieb, die nicht mit der "Lügenpresse", wie sie die Medien in schöner Nachfolge von Rosenbergs "Mythus des 20. Jahrhunderts" nannten, reden wollten, sondern Angst vor der Islamisierung des Abendlandes hatten.

Was ich 2014 beruflich bemerkenswert fand

Neben dem Blick in die Glaskugel (mal sehen, ob ich den auch noch mal auf deutsch mache), finde ich es ja um dieses Jahreszeit ganz spannend, zu gucken, was mich (beruflich) dieses zu Ende gehende Jahr beeindruckt hat. Darum hier meine fünf ganz spontanen, subjektiven, unvollständigen Dinge, die ich für einen Kommunikationsmenschen mit Schwerpunkt im Digitalen wichtig fand.


I. Facebook veränderte sich von Social Media zu einem Performance Channel.
2014 war Facebook zumindest für die professionelle Kommunikation kein Social Media mehr. Dass die Reichweite massiv zurück geht, war ja schon in der zweiten Jahreshälfte 2013 so und für 2014 mehr als nur absehbar. In diesem Jahr noch irgendwas auf Facebook zu starten, ohne auch Mediabudget in die Hand zu nehmen, war Quark. Hat auch kaum jemand versucht. Und wenn, dann aus anderen Gründen als Reichweite, Sichtbarkeit oder Markenkommunikation. Beispielsweise, um einen Blitzableiter für Krisen an der Hand zu haben. Aber das ist noch mal eine andere Geschichte.

Bild bei Thomas Hutter im Blog

Dafür hat sich herausgestellt, dass Facebook ein sinnvoller und effizienter (im Sinne von Mitteleinsatz) Kanal für Performance Marketing und andere Programme sein kann, die auf Performance setzen. War es im Jahr davor eher für Branding, also Markenbildung etc. zu gebrauchen, ist der Performanceaspekt immer wichtiger geworden und war 2014 wirklich sehr dominant.

Das ist auch kein Problem. Wer über zurück gehende Reichweiten jammerte oder ernsthaft glaubte, dass es stimmen kann, dass es allein um guten Content gehe, hatte eh selbst Schuld...


II. Wearables sind vollkommen gefloppt.
Was waren viele aufgeregt angesichts Google Glass und Co. Und haben sich damit überschlagen, diese Brille einmal aufzusetzen und cool zu finden. Im Nachhinein, jetzt, wo wir wissen, dass dies alles gefloppt ist, ist es etwas billig, darauf hinzuweisen, dass ich das absehbar fand. Mache ich darum nicht.

Aber das Konzept, den Körper und seine Peripherie als Zugangsmodule zum WWW zu nutzen, ist doof. Und das haben die allermeisten auch gemerkt. Ich bin gespannt, wie viele so genannte Expertinnen die peinlichen Bilder und Posts mit Google Glass heimlich gelöscht haben werden.

Dass Kleidung und Körperteile mit dem Internet verbunden werden, ist auch mir klar. An der einen oder anderen Stelle ist das auch sinnvoll (naja, zumindest mit einem erkennbaren Mehrwert verbunden). Aber nicht mit dem WWW, also dem Teil des Internets, der für Menschen zur Interaktion und Kommunikation da ist.


III. 3D-Drucker sind in den Massenmarkt eingedrungen und haben das kreative Denken verändert.
Die Geschwindigkeit, in der 3D-Drucker dieses Jahr erschwinglich wurden - selbst Tchibo hatte jetzt einen im Angebot - war schon enorm. Ich finde spannend, wie sehr das schon die kreativen Überlegungen in unserer Branche beeinflusst hat. Und wie viel weiter wir sind, als die Idee 1972 in Tim und der Haifischsee war - siehe ab 19:30 min...




IV. Die Schockwellen von Snowden haben – fast unbemerkt von Politik und Öffentlichkeit – den Markt für Cloud-Anwendungen durcheinandergewirbelt.
Während ist es fast erstaunlich und zumindest betrüblich finde, wie wenig die Totalüberwachung des Internets bei den meisten Menschen ausgelöst hat (obwohl ich mich aktuell frage, ob nicht auch die ressentimentgetriebenen Verschwörungsanhängerinnen, die seit ein paar Wochen in Deutschland montags auf den Straßen rumlungern, wenigstens teilweise eine Katalyse durch diesen Schock erfahren haben), hat dies bei Unternehmen und bei denen, die Investitionsentscheidungen in der IT treffen, durchaus Folgen.

Zumindest habe ich den Eindruck, dass das Cloud-Thema seitdem in professionellen Zusammenhängen anders diskutiert wird. Und dass die Frage, wo physikalisch Daten gelagert werden und welches Rechtssystem dort herrscht, eine größere Rolle spielt. Finde ich auch eher gut, ehrlich gesagt.


V. Mobiles Internet war zum ersten Mal ein gesamtes Jahr lang dominanter als TV, was die Nutzungszeit angeht.
Mich fasziniert, dass es immer noch viele Menschen überrascht, dass und wie sich die Internetnutzung verändert hat. Und das, obwohl dieselben, die erst einmal überrascht sind, bei näherem Überlegen feststellen, dass es bei ihnen - privat - genau so ist. Witzig. Ähnlich wie damals am Beginn von Social Media fiel es dieses Jahr vielen Kommunikationsverantwortlichen noch schwer, von ihrer eigenen privaten Erfahrung als Verbraucherinnen und Internetnutzerinnen für ihre beruflichen Entscheidungen zu profitieren.

Aber dass dieses Jahr das erste Jahr war, in dem mobiles Internet (im Sinne von: Internet auf Geräten mit so genannten mobilen Betriebssystemen wie iOS oder Android und meistens mit Touchsteuerung) täglich eine höhere Verweildauer hatte als TV, dass also - gerade weil in den meisten Altergruppen TV nicht zurück ging von der Nutzungszeit - die parallele Nutzung mehrerer Medien massiv zugenommen hat, ist schon etwas, das Kommunikation durcheinander gewirbelt hat.

19.12.14

Am Weihnachtsgottesdienst hängt die Zukunft unserer Kirche

Es sind die großen Geschichten, die faszinieren, die wir immer wieder hören können, die uns bewegen – zu Tränen, zum Lachen, zu tief empfundenem Glück. Und es sind die großen Ideen, die uns sofort ansprechen, die uns dazu bringen, innezuhalten, aufzubrechen, zu kommen.

Weihnachten hat alles, was eine große Geschichte braucht – Gut gegen Böse, Überraschung, einen Helden, dem niemand das Heldsein zutraut, die Rettung der Welt oder der Menschheit. Alles süßliche, wunderbare, überfrachtete Brauchtum könnte den Erfolg von Weihnachten nicht erklären, wenn es keine große Geschichte wäre.

Wenn wir als Werberinnen und Kommunikationsfachleute etwas bewegen wollen, sind wir immer auf der Suche nach so etwas wie Weihnachten. Einer großen Geschichte, hinter der eine große Idee steht, aus der die gesamte Kampagne fließt und sich entwickelt.

Wir brauchen große Ideen, um zu bewegen. Und eine große Idee ist eigentlich ganz einfach an drei Punkten zu erkennen (und das wiederum hilft, zu verstehen, wieso Weihnachten so irre erfolgreich ist):

Herrnhuter Weihnachtssterne
(1) Sie muss nicht erklärt werden, sondern leuchtet sofort ein. (2) Aus ihr folgt sofort und quasi wie von selbst, was ich daraus machen kann, wie ich sie umsetze in eine Kampagne. Und sie beruht (3) auf einem Insight, wie wir in verschwurbeltem Agentursprech dazu sagen – was meint, dass sie eine tiefe, emotionale, menschliche Wahrheit anspricht, die sich so anfühlt, als würde ich sie schon immer kennen, selbst, wenn ich sie das erste Mal höre oder erlebe.

All dies trifft auf Weihnachten zu. Auf die Idee und die Geschichte. Und dass dann auch noch die Idee von Weihnachten auf eines der größten und etabliertesten Feste gelegt wurde, die es schon gab, war ein genialer Schachzug, der nur den besten Werbern einfällt. Denn es ist die hohe Kunst der Kommunikation, mit der eigenen Geschichte und Idee nicht etwa eine Welle anzustoßen sondern eine bereits große Welle zu surfen.

Mit der Idee, dass die Welt und vor allem wir Menschen gerettet seien, ausgerechnet an den Tagen um die Ecke zu kommen, an denen wir aufzuatmen beginnen, weil die deprimierenden dunklen Tage langsam wieder heller und länger werden, ist genial. Denn das haben wir aus der Forschung gelernt, wie Werbung wirksam sein kann: Auch die beste und größte Idee und Geschichte muss auf fruchtbaren Boden fallen, um Resonanz auszulösen. Sonst wäre das alles ja viel besser planbar als es ist, sonst wären die großen sogenannten viralen Wellen nicht so sehr von Zufällen abhängig. Und die Wintersonnenwende ist genau das Umfeld, in dem die Hoffnung und der Traum von Weihnachten sofort einleuchtet.

Gegen allen Kitsch, gegen alles moderne Schimpfen auf den falschen Schein von Friede-Freude-Eierkuchen, gegen jede der Statistiken, die über Weihnachten besonders viel Streit in den Familien behaupten, gegen all dies steht die Idee und die Geschichte von dem kleinen, verletzlichen Kind im Stall, das unvorstellbar groß ist und eine so radikale Veränderung bedeutet. Und trifft auf eine tiefe Sehnsucht und eine tiefe emotionale Wahrheit. Die Wahrheit davon, dass es anders sein kann als im hektischen Alltag. Und dass es möglich ist, in dieser Welt bereits anders zu leben. Die Sehnsucht nach Frieden und Veränderung und – ja, auch – Erlösung.

Deutsche und britische Soldaten am 26.12.1914
Jedes irgendwie gelingende Weihnachtsfest ist ja tatsächlich ein Vorgeschmack auf das Reich Gottes. So klein es uns scheinen mag. Und so wenig substanziell es daher kommt. Wie oft hat es wirklich den Weihnachtsfrieden gegeben? Wir mögen ihn vergessen im Stress des Geschenkejagens und Essenkochens. Aber gerade in diesem Jahr, in dem sich der Beginn der großen europäischen Katastrophe des ersten Weltkrieges zum einhundertsten Mal gejährt hat, lohnt es sich, auf die Geschichten vom Weihnachtsfest über den Gräben der Front in Frankreich zu hören, um zu erahnen, was Weihnachten sein kann.

Tief in uns schlummern diese Geschichten und Erinnerungen. Sonnenlauf, Kindheitserinnerungen, kollektive Erlebnisse – all das bildet den Resonanzraum für die erfolgreichste Mobilisierungskampagne des Jahres, die unsere Kirchen zu bieten haben: Weihnachten wird in der Krippe entschieden.

So kommen Menschen über unsere Kirchentüren. Getrieben von einer Mischung aus Erwartung, Tradition und tiefen Sehnsüchten. Sie haben sich vorbereitet, wie man sich auf ein Fest vorbereitet – geschmückt mit ihrer besten Kleidung, die Wohnung geputzt, das Essen geplant, die Familie zusammen getrommelt. Voll freudiger Erwartung.

Mein Kommunikatorenherz schlägt schneller, wenn ich an diese Chance denke. Menschen, die bereit sind, zuzuhören, aufzunehmen, zu fühlen. Die wissen und erwarten, dass etwas passiert, das nicht wirklich und voll in diese Welt und Gegenwart passt. Offen für die Magie der großen Geschichte. Für das Heilige. Bereit für die Begegnung.

Aus Sicht eines Christen, der in Werbung und Kommunikation arbeitet und Ideen und Kampagnen entwickelt, ist Weihnachten ein Geschenk. Im Grunde so etwas wie der Elfmeterpfiff – es legt uns den Ball auf den Punkt, wir, die Kirche, die Gemeinde, die Pastorinnen, müssen ihn nur noch reinmachen. Die beste Werbung sind gute Produkte, das wissen wir. Was wir mit Kampagnen und Ideen machen, ist, Menschen dazu zu bringen, sie auszuprobieren. Wir stellen die Menschen sozusagen an die Rampe. Danach muss das Produkt überzeugen, mehr kann eine gute Geschichte, eine große Idee nicht leisten.

Weihnachten bringt so viele Menschen wie nie über die Schwelle der Kirchentür. Danach muss Kirche, muss das Bodenpersonal überzeugen und begeistern. Nur dann hat die große Geschichte einen Sinn. In der großen Kampagne, die wir Mission nennen könnten, ist Weihnachten der wichtigste Baustein, dicht gefolgt von Hochzeiten und Taufen. Sie sind die großen Leuchtturmprojekte der Kampagne. Und sind doch nur so viel Wert, wie das, was wir mit unserem „Produkt“ daraus machen.

Gelingt es uns, die Menschen, die so offen zu uns kommen, anzurühren? Mit dem etwas widerständigen, aus der Zeit gefallenen, irgendwie etwas von der Ewigkeit erzählenden Erleben und Hören und Singen im Gottesdienst? Es ist alles bereitet. Und doch erkennen so viele dieser Menschen nicht, sehen nicht, schmecken nicht, fühlen nicht, wie freundlich und anders und quer zum Alltag Gott ist.

Mein Kommunikatorenherz blutet, wenn ich in den Gottesdiensten, zu denen die Menschen durch die großen, ewigen Geschichten von Liebe, Freude, Hoffnung und Frieden kommen, geistliche Armut erlebe oder eine Nachlässigkeit aus Arroganz oder Langeweile. Oder wenn eine Predigt vergessen wird. Oder ich ohne geistliche Nahrung nach Hause geschickt werde. Oder es nur modern, schick oder feierlich war.

erste Seite des Weihnachtsoratoriums
Ich habe den Traum, dass ich nach der Christvesper aufstehe, nach oben sehe, tief Atem hole und sicher bin, etwas Besonderes erlebt zu haben. Etwas, das mir in den nächsten Wochen etwas bedeutet und mir etwas mitgegeben hat auf meinem Weg, auf den mich der Segen geschickt hat. Das mich trägt und in mir den Funken und die Sehnsucht nach mehr und mehr richtigem Leben entzündet. Und mich früher als Ostern oder das nächste Weihnachten wieder hier hin zieht.

Oft fühlt es sich an, als wäre der Weihnachtsgottesdienst für die, die mich doch eingeladen haben, eine lästige Pflicht. Oft machen Ablauf und Predigt, wenn es denn überhaupt eine gibt, den Eindruck, als wäre dieser Gottesdienst nicht wirklich mit Herzblut vorbereitet. Dabei müsste es doch derjenige sein, der die meiste, frischeste, aufmerksamste Arbeit des gesamten Jahres bedeutet. Denn die große Geschichte, die Kampagne von der Rettung der Welt durch dieses kleine Kind, hat so viele offene Menschen wie sonst nie zu uns gebracht. Hier brauchen wir unsere besten Predigerinnen und Sänger, die begnadetsten Menschenfischer. Denn hier, einmal im Jahr, entscheidet sich, ob wir als Kirche eine Zukunft haben, ob uns die Menschen zutrauen, ihnen das zu geben, was sie suchen und brauchen und was Gott ihnen versprochen hat: Save Our Souls.

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Eine gekürzte Version dieses Textes erscheint in der aktuellen Ausgabe der Evangelische Zeitung, der Kirchenzeitung für Norddeutschland. Ich bin gespannt auf die Reaktionen. Die Christvesper werden wir wahrscheinlich in Volksdorf mitfeiern.

11.12.14

Internetz und Schule und so

Anfang des Jahres hatte ich allen, die nicht bei drei auf den Bäumen waren, das wunderbare Buch von Tanja und Johnny Haeusler mit auf den Weg gegeben. In der Hoffnung, dass sich die Sicht anderer Eltern und von Lehrerinnen auf das Thema “Internet und unsere Kinder” etwas ändern möge. Denn es ist meine Empfehlung dieses Jahr gewesen als Kontrastprogramm zu den üblichen Elternfortbildungen rund um das Internet, die überwiegend mit der Angst spielten.

Womit wir bei der Medienkompetenz wären. Der Ausschnitt, den ich selbst beobachten konnte, ist begrenzt, aber doch nicht zu sehr - von Grundschule über Förderschulen und mittlere Schulformen (die in Hamburg Stadtteilschulen heißen und Gesamtschulen mit Oberstufen sind) bis hin zu Gymnasium und einem Abiturjahrgang reicht es dann doch. Dazu kommen die Gespräche mit anderen Eltern und Lehrerinnen. Und die gute Nachricht ist, dass die Medienkompetenz in den letzten Jahren an den Schulen und bei den Lehrerinnen massiv zugenommen hat. Internetbasierte Arbeitsweisen gehören zum Methodencurriculum aller Schulformen, auch schon der Grundschulen.

Computerraum in einer Schule 2005
Symbolbild "Schule und Internet"

Und ich bin froh, dass “das Netz” vor allem dort zu Hause ist. Methodencurriculum (das jede Schule für sich entwickelt haben muss) heißt ja, dass es verbindliche Aussagen darüber gibt, welche Methoden in der Schule wann und wie gelernt und angewendet werden. Und “das Internet” gehört da flächendeckend dazu, inzwischen nach meiner Beobachtung auch in einer Art und Weise, die ich oft als angemessen empfinde.

Das geht von selbstbestimmten Lernkontrollen in der Grundschule, die über Internetseiten stattfinden, so dass meine Tochter sowohl in der Schule als auch zu Hause auf den gleichen Stand zurück greifen kann, ihre Aufzeichungen und Fragen zu Büchern in der Freiarbeit in der Schule oder in der Hausarbeit am Küchentisch erledigen kann. Und es endet nicht bei Recherchen zu internationalen Diskussionen im Politikunterricht der Oberstufe.

Und wenn das Internet eher unter den Methoden abgehandelt wird, ist das auch ein gutes Zeichen dafür, dass es in der Mitte der Schule angekommen ist. Wie sehr, hängt dann noch etwas zu sehr vom eigenen Geschmack der jeweiligen Lehrerin ab, aber selbst die hartnäckigsten Anhängerinnen von baumbasierten Nachschlagewerken kommen nicht mehr umhin, Recherchen und Quellenarbeit auch anders anzuleiten und zuzulassen.

Symbolbild "Wände in Schulgebäuden"
Inzwischen sind wir in den Schulen schon so weit, dass wir nicht mehr jede Grundsätzlichkeit diskutieren - sondern uns eher damit auseinandersetzen, dass es kein Netz gibt, weil mobiles Internet in den Betonklötzen nicht funktioniert und das schuleigene Netz, ob über Kabel oder WLAN wieder einmal down ist. Weil es niemanden gibt, der oder die sich damit auskennt und die Firma, die beauftragt ist, den Server und die Computer wieder flott zu machen, über die die Smartboards angesteuert werden, erst in vier Wochen vorbei kommt. Das Service Level Agreement und das Geld, das die Schulbehörde dafür investiert, reicht nicht zu mehr. Weshalb ja auch die Lehrerinnen die Zeugnisse zu Hause schreiben, weil sie nicht ins Netzwerk kommen. Oder ihr privates Handy nutzen, um einen Hotspot für die Schülerinnen zu bauen, wenn ihr Klassenraum weit genug an der Außenwand liegt, um zumindest eine EDGE-Verbindung zuzulassen.

Wer hätte gedacht, dass 2014 die technische Ausstattung das größere Problem ist als die Bereitschaft oder Kompetenz der Lehrerinnen. Der Generationswechsel macht sich inzwischen eben doch bemerkbar.

Also bringen die Schülerinnen ihre eigene IT mit. Smartphones und Tablets vor allem, auch ihr eigenes Internet, wenn es denn funktioniert, siehe oben. Weshalb nach Stricken und Rauchen nun also die Nutzung von mobilen Internetzugangsgeräten kontrovers zwischen Eltern, Schülerinnen und Lehrkörpern diskutiert wird.

An allen Schulen, an denen ich als Vater mehr oder weniger nicht aktiv bin, haben wir in diesem Jahr diese Frage verhandelt. Und sind an jeder Schule zu einem anderen Ergebnis gekommen. Spannend war dabei, dass der Riss immer einmal quer durch Kollegien und Elternschaft ging. Nur die Schülerinnen waren sich immer recht einig.

Von Handy- und Tablet-Verbot auf dem Schulgelände über gescheitere Regelungsversuche bis hin zu spannenden Kompromissen, die sehr differenziert zwischen Unterricht, Freiarbeitszeiten und Pausen unterschieden und Handy-Zonen auf dem Schulhof schufen, habe ich alles miterlebt.

Traurig macht mich, dass wir 2014 kaum einen Schritt damit weiter gekommen sind, Informatik als Pflichtfach für alle einzuführen. Dass die Sensibilität dafür immer noch kaum vorhanden ist -  und es uns kaum gelungen ist, neue Verbündete zu finden -, dass es eine wichtige Zukunftsfrage für unsere Kinder ist, ob sie die Grundprinzipien von Programmen verstehen, ob sie in Ansätzen Code lesen können, ob sie eine Vorstellung davon haben, wie mächtig Algorithmen sind und wie viel Macht es verleihen kann, sie zu kennen und ändern zu können. Vielleicht sogar eine wichtigere Frage als die nach der Position von Brom im Periodensystem.

Belustigt stand ich vor den Diskussionen anderer Eltern und einiger Lehrerinnen über Facebook. Während unsere Kinder schon längst Freshtorge auf Youtube folgten und sich via Instagram die nächste große Liebe andeutete. Während sich die einen darüber beklagten, dass ihre Kinder die Lokalzeitung nicht mehr lesen (oder die Zeitungsverleger gar nach dem Schutzzollgesetz auch noch das Pflichtfach Medienarchäologie an den Schulen forderten), war ich überrascht, was mein 12-Jähriger alles über die Welt und die Politik weiß - bis ich rausfand, dass er natürlich Le Floid auf Youtube abonniert hat. Ganz ehrlich: mir ist das Medienverhalten meiner Kinder auch fremd. Aber ich finde es faszinierend.

Und seit in der Schule im sozialen Brennpunkt die Kommunikation zwischen der Klassenlehrerin und den Schülerinnen über Whats App läuft, vergessen die auch ihren Turnbeutel nicht mehr. Eine kurze Nachricht morgens - und alles ist geritzt.

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Etwas bearbeitet ist dieser Text auch im Jahresrückblickbuch von iRights  media erschienen. 
Hier kann man ihn online lesen.

4.12.14

Don't call me Pony

Es war damals eine große Freude, zu sehen, dass jemand aus der Ursuppe der eigenen Internet- und Social-Media-Nutzung das gleiche Hobby die gleiche Leidenschaft hat. Ich mochte ihre Arbeit schon, als ich das noch nicht wusste. Umso größer war die Freude. Als sich Kathy Sierra nach den brutalen Angriffen auf sie aus dem Onlineleben zurück zog, hat sie sich noch intensiver mit den großartigen Pferden, der Krone von Gottes Schöpfung, beschäftigt.

Und ist seit einiger Zeit wieder ins Onlineleben zurück gekehrt, sogar mit Blog. Und mit wunderbaren Filmen. Wie diesem hier. Der wahr ist. Und schön. Und so, wie ich fühle.


26.11.14

Lebenswert

Kleinigkeiten.


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Was drückt die Kraft von beiläufigen Online-Netzwerken besser aus als die kleine Episode am Rande der EKD-Synode neulich. Als Kerstin Griese, langjährige Synodale und Bundestagsabgeordnete, durch die Reihen ging und die Menschen suchte, die sie von Twitter kannte. Denn da waren ja einige da, als es um das Digitalthema ging. Sie stelle sich allen vor und nahm eine erste kohlenstoffliche Begegnung auf. Wieder nach langer Zeit einmal das Erlebnis gehabt, dass ein Kennenlernen online dazu führt, dass die erste Offlinebegegnung dann anders beginnt, irgendwie direkt in der Gegenwart, ohne Abtasten. Wie früher (tm) in den guten alten Tagen des Bloggens.

Für mich auch deshalb doppelt netzwerkend, weil ich ihren Vater recht gut kannte aus der religiös-politischen Arbeit in den 90ern. Und sie da lebt, wo meine Liebste herstammt.


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Ich war unglaublich beeindruckt, wie schnell in der Pampa von Schläfrig-Holstein die Rettungsdienste sind. Am Sonnabend hatten wir einen schweren Unfall auf einem Feldweg in der Nähe von Lehnsanerhof. Und nur gut 5 Minuten nach dem Notruf war der Rettungswagen da. Als der Sanitäter nach einer Notärztin rief, war der Hubschrauber knapp weitere 5 Minuten später da.

Das beruhigt irgendwie. Und was für ein unglaubliches Glück wir hatten - alle leben, keine Knochenbrüche -, ist ohnehin phantastisch.


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Wie toll ist es bitte, ein erwachsenes Kind zu haben? Ja, es ist irgendwie komisch, dass es zum Studium ausgezogen ist. Und toll, wie es sich in einer besonderen Situation einbringt, kommt, hilft, übernimmt. Von sich aus. Ohne eine Widerrede zu dulden. Irgendwas haben wir nicht völlig falsch gemacht. Danke dir.


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Sagte ich schon mal, wie fasziniert ich von unserem Chiropraktor bin? Was nur durch mechanische Behandlung möglich ist?

13.11.14

Der Mensch, die Welt, der digitale Wandel

Meine Kirche hat nun also etwas gesagt zur Kommunikation des Evangeliums in der digitalen Gesellschaft. Eigentlich sogar noch zu anderen Dingen, vor allem dazu, was aus evangelischer Sicht Teil einer gelingenden digitalen Gesellschaft sein müsste.

Mir waren ein paar Dinge wichtig, weshalb ich aktiv mitgearbeitet habe und dafür gekämpft, Menschen und ihre Haltung zum Thema zu "drehen", teilweise auch in vielen vielen vielen einzelnen Gesprächen:

  • Dass meine Kirche mit einer Haltung der Zuversicht und Freude mit dem digitalen Wandel der Gesellschaft umgeht. Und dass sie auf die Chancen blickt.
  • Dass die Synode, das Bundesparlament sozusagen, ein Zeichen der Ermutigung und der Unterstützung an die sendet, die bereits in der digitalen Gesellschaft angekommen sind. Denn bisher werden einige von ihnen in unserer Kirche noch etwas schräg und misstrauisch beäugt.
  • Dass meine Kirche sich nicht auf die Seite der Diskussion schlägt, auf der der Untergang der Kultur vermutet wird. Und nicht auf die Seite der Verwertungsmafia.

Ich selbst durfte ja an der Vorbereitung des Themas mitwirken, insofern bin ich vielleicht etwas parteiisch. Aber ich freue mich, dass diese Ziele weitgehend erreicht sind - auch wenn die Jugenddelegierten der Synode, die das Thema auf die Tagesordnung gebracht haben, zwischendurch etwas frustriert waren (siehe da hinter dem Link auch meinen Kommentar unter dem Text) und mehr wollten und mit einigen konkreten Anträgen durchgefallen sind.

Die drei Punkte, die mir am wichtigsten sind bei der Bewertung dessen, was die Synode da beschlossen hat, habe ich noch am Abend in aller Kürze zu sagen versucht.
Hier ein bisschen Kontext und Fleisch dazu.


Diese Frage ist theologisch nicht trivial und für Kirche und Kirchenverständnis hoch relevant, wenn auch wahrscheinlich nur für Theologinnen wirklich in ihrer Brisanz spannend. Aber dass die Synode explizit den Antrag des badischen Altbischofs ablehnte, das Wort Gemeinde zu streichen, wenn es um nichtkohlenstoffliche Zusammenkünfte geht, ist ein sehr großer Schritt.

Theologisch geht der Disput um die Frage, ob "zusammen sein" eine physische Anwesenheit erfordert. Ob also Gemeinschaft auch nicht-körperlich möglich ist. Das ist übrigens eine uralte Frage in den Kirchen, zu der sich die orthodoxen Kirchen schon vor dem Mittelalter anders als die "Westkirchen" positionierten, aber das nur am Rande. Wichtigstes Argument für die Position, die die Synode jetzt gefunden hat und vertritt, ist, dass zumindest die Lutheraner an die reale Anwesenheit Jesu Christi im Gottesdienst glauben. Der auch eher nicht so direkt körperlich da ist.

Hier öffnet die Synode den Weg dazu, neue Gemeindeformen zu erproben, die eher über eine personale Beziehung als über eine physikalisch-räumliche Nähe konstituiert werden. Sehr spannend, offener Ausgang. Und die Gegenposition zu dem, was Justizminister Maas auf dem Empfang der SPD am Rande der Synode sagte. Fein.


Bei aller Euphorie über die Medienrevolution und bei aller in der Geschichte unserer Kirche begründeten Begeisterung für neue Medienformen (immerhin gäbe es die evangelischen Kirchen nicht ohne die letzte große Medienrevolution - Buchdruck - , gäbe es überhaupt keine Kirchen ohne die davor - Schrift und Briefe), vergisst die Position, die die Synode bezieht, nicht, dass die christliche Vorstellung vom Menschen immer auch mit seiner Heiligkeit, mit Unverfügbarkeit, mit Geheimnissen zu tun hat.

Zwar konnte sich die Synode nicht dazu durchringen, eine klare und eindeutige (politische) Position zum Handeln der Bundesregierung und der Geheimdienste zu beziehen - aber an vielen Stellen im Text und in den Bitten an den Rat der EKD (sozusagen die Bundesregierung der Kirchen) ist die Position dennoch klar formuliert. Die Realvision der Post-Privacy-Aktivistinnen und das Konzept im Roman The Circle lehnt die Synode sehr klar und eindeutig ab.

Entlang der Frage des Menschenbildes und der Verfügbarkeit und Öffentlichkeit des Menschen, entlang der Frage, was denn der Mensch sei, wird - davon bin ich überzeugt - eine der großen gesellschaftlichen Debatten des digitalen Wandels geführt werden in den nächsten Jahren. Und hier scheint jetzt endlich eine evangelische Stimme in dieser Debatte auf. Das ist der Anfang einer wichtigen theologischen und ethischen Arbeit. Darauf freue ich mich.


Das freut mich ganz besonders. Denn dass so viele Menschen die Diskussion um den digitalen Wandel und die digitale Gesellschaft als eine um Facebook und Social Media führen, nervt mich gewaltig. Die Gefahr bestand auch auf der Synode, denn die Diskussionen und Gespräche drehten sich oft nur um die Frage der Nutzung von Social Media - und sie wählte ja auch den "Facebook-Bischof" zum Chef der EKD. Und Social Media ist ja auch das, was wir erst einmal am besten verstehen, weil es so wunderbar sichtbar ist, weil wir hier sehen, was passiert.

Ich finde es großartig, dass das größere Thema digitale Gesellschaft immer wieder im Mittelpunkt steht, nicht die Äußerungsform Social Media. Weiter so.

Wie geht es weiter?
Es sind einige konkrete Bitten an den Rat der EKD und andere Adressatinnen in der Kirche gerichtet. Aus meiner Sicht ermöglicht die Erklärung der Synode aber vor allem denen, die an der Basis in digitalen Räumen arbeiten und arbeiten wollen, sich auf die Kundgebung zu beziehen. Wenn im Pfarrkonvent Kritik oder Unverständnis laut wird, haben die Leute etwas in der Hand, das wie ein Schutzschild funktioniert.

Bildung und Ausbildung wird ein Schwerpunkt sein, auch mit Geld ausgestattet werden. Internetbeauftragte von Landeskirchen und Kirchenkreisen werden Servicestellen für Praktikerinnen sein können.

Sehr spannend wird sein, ob und wie eine theologische und ethische Weiterarbeit an dem Thema gelingen kann. Die Referate von zwei Professorinnen der praktischen Theologie auf den Synoden sind da ermutigend (Christian Grethlein und Ilona Nord/PDF). Ich persönlich würde mir ja wünschen, dass der Rat der EKD eine Kammer für digitalen Wandel einrichtet, die an dem Thema wissenschaftlich und politisch arbeitet. Mal sehen.

3.11.14

Working Out Loud

Damals (tm), als wir anfingen mit diesem Social Media, war eine der zugleich für die anderen merkwürdigsten und für uns (tm) hilfreichsten kulturellen Neuerungen das Teilen von Ideen und Erkenntnissen. Ich selbst war ja damals (tm) sehr inspiriert von einem der drei wichtigsten Bücher für alle, die Kommunikation in sozialen Medien machen - The Catheral And the Bazaar von Eric S. Raymond -, und auf der Suche nach Wegen, den Gedanken von Open Source auf andere Kreativbereiche als Software anzuwenden.

Das Teilen von Quellen (del.icio.us damals, heute delicious), das Aussprechen von Ideen und Forschung - alles das gehörte dazu. Und es führte dazu, dass wir (tm) besser wurden. Dass wir durch Quelloffenheit auf ein neues, anderes Niveau kamen.

Diese Idee - ob nun öffentlich teilen oder in einem bestehenden Netzwerk - wird seit einiger Zeit wieder lauter diskutiert unter dem Titel Working Out Loud. Und ich finde diese Idee immer noch gut. Denn sie hilft mir, besser zu werden. Netzwerke zu bauen. Und vom Netzwerk zu profitieren. Intern sogar noch mehr als extern.

Ich beispielsweise bin jemand, der sehr viel bei Kundinnen ist, präsentiert, Workshops leitet.
Und dadurch nicht nur viel erlebt und sieht, was er in das eigene Netzwerk, vor allem in den Wissensspeicher der eigenen Agentur zurück fließen lassen kann. Sondern auch sehr davon profitiert, wenn andere das ebenso machen. Wenn ich leben kann von dem, was andere wissen, erleben, erfahren, machen.

Darum werbe ich beispielsweise bei achtung! sehr dafür, dass die Kolleginnen im Nachrichtenstrom unseres Intranets aufschreiben, was sie so tun. Und dafür, nicht die Schere im Kopf zu haben, ob das jemanden interessieren wird. Mich interessiert es. Und ich profitiere davon. Selbst wenn ich es nur aus dem Augenwinkel wahrnehme, ich kann es oft genug, wenn ich draußen bei den Kundinnen bin, abrufen und erinnern.

Viele Menschen, denen ich in meinem Netz begegne, sprechen davon, dass "Networking" (oder wie auch immer es genannt wird) für sie zum Berufsprofil dazu gehört. Ich denke mehr und mehr, dass das so nicht wirklich voll stimmt und etwas fleischlos ist. Dass es statt dessen eher um Working Out Loud geht. Um das Teilen von Erfahrungen und Wissen. Do ut des. Ohne dass das ut allzu utilitaristisch ist.

Mir ist dabei die Unterscheidung von Wissen und Informationen wichtig.
Informationen sollten, davon bin ich überzeugt, frei sein. Die will ich teilen, da profitieren wir alle gegenseitig, wenn wir sie teilen. Wissen ist das, was ich, was meine Organisation daraus machen. Aus den Informationen gepaart mit den Erfahrungen und dem konkreten Arbeiten an Projekten und mit Kundinnen. Und was wir darum intern firmenweit teilen sollten.

Informationen teile ich großzügig auch außerhalb meines Arbeitsnetzwerkes. Wissen teile ich so gut es geht im Team und im Arbeitsnetz. Und wünsche mir, dass es die anderen auch so tun. Denn das können wir aus Open Source und agilem Arbeiten lernen: Dass offene Quellen zu besseren und stabileren Ergebnissen führen und die Arbeit und Produkte besser nachvollziehbar und bewertbar machen. Und dass eine extrem hohe Prozess- und Wissenstransparenz im Team, das an etwas arbeitet, enorme Produktivitäts- und Qualitätszuwächse bringt.

Jede Minute, die ich investiere, um im Neuigkeitenstrom des Intranets zu erzählen, woran ich gerade arbeite und was ich daraus lerne und ableite, ist eine Minute, die gut investiert ist und die sich - bezogen auf die Gesamtorganisation - fast sofort auszahlt. Denn ich spare anderen Zeit und mache mein Wissen für sie schnell verfügbar. Wenn andere es ebenso machen, hilft es mir direkt und jeden Tag.

Zum Working Out Loud gehört darum beides: Dass ich daran denke, jeden Tag mindestens eine Kleinigkeit aus meinem Arbeitsalltag mit der gesamten Firma zu teilen. Und dass ich mich für das eine oder andere, was die anderen teilen, bedanke, sei es durch ein kurzes "like" oder durch einen Kommentar.

Dass ich selbst nicht wissen kann, was für andere wertvoll sein kann, ist dabei in der Praxis der schwierigste Part, stelle ich fest, jetzt, wo wir in der Agentur mit so etwas wie Working Out Loud experimentieren. Und interessanterweise fällt die Haltung, dass ich eben nicht frage, ob es jemanden interessieren könnte (und dann vielleicht lieber lasse, es zu sagen, weil es ja für die anderen uninteressant sein könnte oder sie nerven oder so), denen leichter, die schon länger aktiv in Social Media leben und arbeiten.

Vielleicht liegt das daran, dass genau dieses Umdenken eines der konstitutiven Elemente des Lebens und Publizierens und Arbeitens in Social Media ist, wenn es richtig funktioniert. Dass wir (tm) die Erfahrung gemacht haben, dass unsere obskuren Blogs und Twitteraccounts irgendwie ihre Leserinnen und Follower finden, dass Relevanz bei den Empfängerinnen unserer Infobits, unserer Geschichten entsteht. Dass wir eben nicht immer an die Leserinnen denken - sondern daran, dass wir dies jetzt erzählen wollen.

Ist es nicht faszinierend, dass aus dem Ich-Sagen von Vielen, aus dem ungefragten Teilen von Informationen und Wissen, aus dem laut Aussprechen etwas entsteht, das mehr ist als die einzelnen Kleinigkeiten? Geradezu heraklid'sch?

18.10.14

Bleibt alles anders

Stalking, Aufforderung zur Lynchjustiz, Mobbing durch Identitätsklau, illegales Kopieren von Filmen und Musik – die Digitalisierung unserer Lebenswelten hat bei weitem nicht nur positive Auswirkungen. Immer wieder begegnet mir daher bei Eltern und Menschen, die sich mit ethischen Fragen beschäftigen, eine große Unsicherheit: Wie sollen wir damit umgehen? Mit all den völlig neuen Fragestellungen, die uns überrollen?

Als jemand, der aktiv die Digitalisierung seiner Lebens- und Kommunikationsumgebung vorantreibt und gestaltet, habe ich zunächst ebenfalls vermutet, dass die Veränderungen so radikal sind, dass auch neue ethische Fragen entstehen (müssen). Und war dann überrascht, dass das nicht der Fall ist.

Sowenig das Internet ein „rechtsfreier Raum“ ist, so wenig sind Prozesse, die sich durch die Digitalisierung verändert haben und verändern, „ethikfrei“. Bei den meisten Themen helfen die Fragen und sogar die Antworten, die die (evangelische) Ethik sich erarbeitet hat, weiter. Sinnfällig wird das schon daran, dass die großen Fragen rund um die Digitalisierung exakt die gleichen sind, die immer die großen Fragen der Ethik waren: die vom Verhältnis von Freiheit und Verantwortung; von Recht und Rücksicht; von Eigentum und Verpflichtung; von Egoismus und Altruismus. Um nur einige zu nennen.

Wie bei jeder Technologie, die Wissen − was auch Daten meint − und Kommunikation besser verfügbar macht, ergeben sich auf einmal für mehr Menschen Fragen, die vorher eine Minderheit oder Elite berührten. So wie die Digitalisierung „Skalierungseffekte“ in fast allen Bereichen bringt, bringt sie auch „Skalierungseffekte“ in der Ethik – also die Herausforderung, dass mehr ethische Fragestellungen in kürzerem Abstand für immer mehr Menschen aktuell und relevant werden.

Es ist auffällig, dass Platons Polemik gegen das Schreiben und Erasmus’ Polemik gegen das Drucken fast wörtlich die Vorbehalte gegen die Veröffentlichungen im Internet wiedergeben. Und zugleich beide das, was sie kritisierten, sehr fleißig und erfolgreich für sich selbst nutzten. Sie hatten einfach große Probleme mit der Vorstellung, dass weniger Gebildete als sie dies auch tun könnten. Auch ihre Anfragen an Wahrheit, Nachvollziehbarkeit, Wahrhaftigkeit, Medienkompetenz – alles ethische Fragestellungen – sind faszinierenderweise fast wörtlich die gleichen, die sich heute, bei der dritten großen Medienrevolution, stellen. Vor allem die Frage, welcher Information, welchen Daten wir trauen können, ist heute ähnlich wie damals hochaktuell.

Was neu ist, auch in den ethischen Fragestellungen, ist der Personenkreis, der für sich diese Fragen beantworten muss. Medienethik ist nicht mehr ausschließlich Thema professioneller Medienschaffender. Umgang mit Persönlichkeitsrechten betrifft jede Person, die ein Smartphone, also einen Fotoapparat mit Internetanschluss, besitzt. Ethische Fragen rund um die Vervielfältigung von Inhalten sind für alle relevant geworden. Und so geht es weiter.

Haben sich durch die Erfindung und die Etablierung des Buchdrucks neue ethische Fragen ergeben? Nur wer das mit Ja beantworten kann, wird auch gute Argumente auf seiner Seite haben für die These, dass die Digitalisierung neue ethische Fragen aufwirft. Und nicht „nur“ ein neues Nachdenken über die Antworten erfordert.

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Diesen Text habe ich zuerst für das Lesebuch zur diesjährigen Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland geschrieben, das die Synodalen (Abgeordneten) auf das Schwerpunkttheme vorbereiten soll: Kommunikation des Evangeliums in der digitalen Gesellschaft. Dieses Thema inhaltlich mit vorzubereiten und auch den Entwurf der Kundgebung der Synode mitzuverfassen, hatte ich ja in diesem Jahr auf Einladung der Präses der Synode die Freude. 

Übrigens merke ich, dass ich mit dieser Mitarbeit sehr viel mehr am gesellschaftlichen Diskurs bewegen kann als mit fast allen netzpolitischen Aktivitäten, die denkbar wären. Allein, dass der Begriff "geistiges Eigentum" im Kundgebungsentwurf nicht vorkommt, ist ein wunderbares Zeichen...

23.9.14

Ich weinte vor Rührung und Freude. Und vor Zorn

Gestern und heute schwappte eine Geschichte durch meinen Facebook-Strom (merkwürdigerweise noch nicht in gleicher Intensität durch mein Twitter). Nicht alle verlinkten auf den gleichen Artikel und ich musste auch etwas suchen, bis ich ein Video in hoher Qualität von diesem Ereignis fand. Aber an vielen, vielen Stellen poppte diese Geschichte mit und von Emma Watson auf. Zu Recht.

Seit einiger Zeit horche ich immer auf, wenn von Frau Watson die Rede ist, weil sie sich klug und klar zu Fragen des Feminismus und der Geschlechtergerechtigkeit äußert. Das finde ich schon darum so besonders interessant und wichtig, weil meine Jungs mit ihr aufgewachsen sind, die ältesten mit ihr gemeinsam erwachsen geworden. Irgendwie gehört sie für meine Generation zur Familie, vielleicht geht es ja der einen oder anderen von euch auch so.

Ich habe mir also ihre Rede vor den Vereinten Nationen zur HeForShe-Bewegung angesehen.

Tränen der Rührung
Nun bin ich ohnehin eher nah am Wasser gebaut, was solche emotionalen Momente angeht - aber hier hat es mich wirklich gepackt. Frau Watson hat mich gepackt, gerade als männlichen Feministen.



Ihre zugleich emotionale und extrem scharfsinnige, intellektuell anspruchsvolle Rede ist großartig, finde ich. Wie sie gegen die dummerhaftigen und schrägen neuen Antifeministinnen anspricht, sich klar und deutlich positioniert als Feministin, erklärt, wie es kommt, dass sie Feministin wurde.

Ich selbst bin ja in einer feministischen Umgebung groß geworden, sozusagen in den Experimentalraum einer neuen Gemeinschaft von Männern und Frauen hinein geboren und gekommen. Seit den 80ern waren die links-evangelischen Kirchen und Gemeinden in Nordeuropa und damit auch in Norddeutschland, in denen ich aufwuchs, solche Räume, in denen es leicht und fast selbstverständlich war, als Mann Feminist zu sein. Bis heute ist es sowohl interessant als auch großartig, dass in den evangelischen Kirchen nicht-sexistische und geschlechtergerechte Sprache und Praxis üblich und verbreitet ist. Unter Frauen und Männern.

Als Vater von Söhnen und einer Tochter habe ich keine andere Wahl als Feminist zu sein. Und unterstütze ich Frau Watsons Aufruf, dass sich auch und gerade Männer ändern müssen und ihren Teil zu einer guten und gerechten Welt beitragen.

Tränen des Zorns
Und dann sah ich die Links auf die Artikel, die zwar Emma Watson zujubeln, es aber mit einem fiesen Derailing verbinden. Die behaupten, Frau Watson denke den Feminismus neu und wolle, dass Männer nicht so hart angegangen werden ("not shaming men in the process", dafür gibt es keine elegante Übersetzung irgendwie).

Diese Interpretationen machen mich wirklich sauer. Denn sie sind einfach falsch und so etwas sagte sie an keiner einzigen Stelle. Im Gegenteil fordert Frau Watson die Männer auf, sich an die Seite von Feministinnen zu stellen, selbst Feministen zu werden, und die Welt zum Besseren zu verändern. Auch, weil viele von uns Männern auch selbst krank werden und leiden unter der Ungerechtigkeit und den stereotypen Rollenzuschreibungen.

Damit hat sie aus meiner Sicht Recht. Und gerade als Vater von drei Söhnen ist mir deren feministische Erziehung ja nicht nur wichtig, damit sie zu denen gehören, die die Welt ein bisschen besser machen - sondern eben auch, weil es ihnen damit besser gehen wird. Davon bin ich überzeugt.

Wenn Emma Watson Männer mit anspricht in ihrer Rede und mit ihrem Programm, dann nicht sanft oder verständnisvoll. Sondern klar und deutlich. Und mit dem Hinweis, dass sie sich radikal ändern müssen. Dass gerade Männer diesen radikalen Weg mitgehen müssen. Was ich bewundere an ihrer Rede, ist, dass sie Männer einlädt, Teil der Bewegung für eine gerechtere Welt zu werden. Und sie auffordert, sich zu entscheiden. Denn Maskulinisten und vergleichbare Idioten sind eben dies: Idioten, für die es keine Entschuldigung gibt.

Schaut euch noch einmal ihre Rede an. Und noch einmal. Hört ihr sorgfältig zu, denkt nach. Ich bin mir sicher, dass diese Rede von Emma Watson dazu beitragen kann, den eigenen Blick auf Feminismus zu verändern. Und sich zu radikalisieren. Das hat sie jedenfalls mit mir gemacht.

21.8.14

Wie die Zeit vergeht

2010 waren wir auf Læsø. Damals mit allen vier Kindern. Und auf Højsande, dem höchsten Punkt der Insel, steht ein Baumstumpfdingens, das eine magische Anziehung auf Jugendliche hat.

Primus 2010 auf Højsande
Secundus 2010 auf Højsande

2014 waren wir wieder auf Læsø. Diesmal mit zwei Kindern. Und auf Højsande, dem höchsten Punkt der Insel, steht immer noch ein Baumstumpfdingens, das eine magische Anziehung auf Jugendliche hat.

Quarta 2014 auf Højsande
Tertius 2014 auf Højsande

Und 2008 waren wir ja übrigens auch auf Læsø. Ihr erkennt das Muster. Da hatte Tertius Gott entdeckt im Museumshof. 2014 hat er ihn wieder gesucht.

Tertius entdeckt Gott 2008
Tertius entdeckt Gott 2014


1.8.14

Teilhabe in der digitalen Gesellschaft

Ich bin ja vor einiger Zeit in den Vorbereitungsausschuss der Synode (Parlament) der Evangelischen Kirche in Deutschland berufen worden, weil sie sich im Herbst mit dem Thema Kommunikation* des Evangeliums in der digitalen Gesellschaft beschäftigen wird. Dabei habe ich mich wieder mehr mit ethischen und kirchlich-praktischen Fragen beschäftigt, die sich aus der Digitalisierung ergeben. Ein paar Gedanken bringe ich jetzt ein - wenn es darum geht, meine Kirche in dieser Frage zu positionieren. Hier seien sie einmal etwas unsortiert und unvollständig geteilt. Der etwas pathetisch-appellative Ton ist dem geschuldet, dass es Entwurfssätze für eine Stellungnahme, ein Papier sind. Mal sehen, was von diesen Gedanken die nächsten Monate und Runden überdauert, bis die Synode im November zusammen kommt und was sagt.

* [Update 20.8.] hier stand zuerst "Verkündigung". Das ist aber falsch und auch irreführend, weil wir zwischen Kommunikation (multidirektional in Worten, Bildern, Taten) und Verkündigung unterscheiden.
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Kirche und digitale Räume

Für eine evangelische Kirche als einer Kirche des Wortes und der Kommunikation ist es notwendig, da aktiv und ansprechbar zu sein, wo Menschen zusammen kommen, um miteinander zu sprechen und zu kommunizieren. Die fortschreitende Digitalisierung von Kommunikation, Texten, Bildern und anderen Medien hat einen neuen Raum geschaffen, in dem Menschen dieses tun.

Kirche hat sich in Verkündigung und Kommunikation in ihrer Geschichte immer schon der jeweils innovativsten Mittel und Orte bedient. Bereits Jesus war mehr unterwegs als es zu seiner Zeit üblich war. Paulus und die frühen Gemeinden nutzten das bis dahin fast nur der römischen Politik vorbehaltene System der Briefe und Kopien. Ohne die revolutionäre Technologie des Druckens wäre die Reformation nicht möglich gewesen. Radio und Fernsehen wurden von missionarischen Kirchen seit ihrer Erfindung eingesetzt. Die Chancen der Digitalisierung und der digitalen Netzwerke und des Internet mit Kraft und Überzeugung zu nutzen, steht in einer guten Tradition und ist für evangelische Kirchen alternativlos.

Eine Herausforderung in jeder Medienrevolution ist es, die richtigen Räume und Sprachen zu finden, um das Evangelium weiterhin kommunizieren zu können. Insbesondere die Ent-Räumlichung von Nähe ist dabei eine Rahmenbedingung, auf die evangelische Kirche noch keine Antwort gefunden hat: Wie können unter der Bedingung der Digitalisierung virtuelle und anfassbare Räume und Orte geschaffen werden, an und in denen sich Gemeinde bilden kann und Kirche und Christinnen und Christen sich finden lassen können? Was ist der Kirchturm in digitalen Welten, die zunehmend Teil der Lebenswirklichkeit der Menschen sind?

Die Digitalisierung schreibt die Entwicklung fort, die seit Erfindung der Schrift begonnen hat: Sie macht Kommunikation unabhängiger von Raum und Zeit. Mit der Digitalisierung ändert sich vor allem die Geschwindigkeit dieser Entwicklung. Eine kirchliche Praxis, die Menschen in der digitalen Gesellschaft erreichen will, muss ihren Erwartungen an Verfügbarkeit und Geschwindigkeit entsprechen. Vor allem die Chance, sich in digitalen Räumen finden lassen zu können, kann nur ergreifen, wer in ihnen präsent ist und ihre Medienregeln beachtet.

Die Digitalisierung von Inhalten und Beziehungen hat diese durchsuchbar und auffindbar gemacht. Nur wenn Verkündigung und Kommunikation digital vorliegt oder digital übersetzt ist, wird Kirche weiterhin Teil der Gesellschaft und des Alltags der Menschen sein können. Im neu entstandenen Bereich zwischen "privat" und "öffentlich" ist eine Form der Zugänglichkeit entstanden, den die kirchliche und gemeindliche Praxis nutzen wird.

Christin und Christ in der Welt kann ja nur sein, wer in der Welt lebt. Wenn digitale Räume und Netze für immer mehr Menschen aller Generationen fester Bestandteil ihrer Welt sind, muss es kirchliche Verkündigung und christliches Zeugnis in diesen Räumen und Netzen geben. Ohne aktiv in diese Welt zu gehen, scheitert kirchliche Praxis. Unabhängig von der je eigenen Befindlichkeit und Meinung zu ihnen, ist die Ansprechbarkeit in digitalen Räumen und Netzen auf das eigene christliche Bekenntnis für alle notwendig, die sich der Kommunikation des Evangeliums widmen.

Die Digitalisierung der Gesellschaft hat die Entwicklung beschleunigt, dass es neben der Parochie andere, gewählte Gemeindeformen gibt. Das ist nicht neu, sondern schon durch die Urbanisierung und Globalisierung entstanden. Umgemeindungen waren hier ein Instrument und eine Antwort. Jetzt entsteht durch die Ent-Räumlichung von Heimat und Beziehungen das Bedürfnis nach ent-räumlichten Gemeinden. Für Menschen, die Nähe ohne räumliche Nähe suchen und finden, muss und wird evangelische Kirche Gemeinden (er)finden und Gemeinschaft schaffen müssen, die anderen Menschen fremd sind. Hier Verbindlichkeiten und Verlässlichkeit zu entwickeln, wird nur möglich sein, wenn sich diese Gemeinden in digitalen Netzen bilden können.

Wie in den vergangenen Medienrevolutionen wird es auch bei der Digitalisierung der Gesellschaft darauf ankommen, christliches Leben und kirchliche Praxis so zu interpretieren und beispielhaft zu zeigen, dass Freiheit in Gemeinschaft möglich wird.

Bildung als kirchliches Thema

Lesen und Schreiben hat Menschen ermöglicht, sich mehr Teilhabe zu erobern. Die Kirchen der Reformation haben das immer unterstützt. Medienethische Bildung und Wissen über Wirkung und Wirkweisen von Bildern und Texten helfen Menschen, Manipulation zu erkennen. Und heute hilft ein besseres Verständnis von Digitalisierung, Daten und Netzwerken, Freiheit und Teilhabe zu erlangen. Dies ist eine Aufgabe für eine Kirche der Freiheit.

Die evangelische Kirche hat die Alphabetisierung unterstützt und fördert alle Bildungsoffensiven, die zu mehr Selbstbestimmung und Teilhabe führen. Dazu gehört heute, dass in immer mehr Ländern beispielsweise Algorithmen und Programmiersprachen zum Curriculum der Schulen gehören. Jede Entmystifizierung von Daten und Prozessen ist ein Schritt zu freier Entfaltung. Die Gesellschaft darf nicht in "user" und "loser" zerfallen. Teilhabe in der digitalen Gesellschaft darf nicht abhängig sein von Bildung und Einkommen.

Wissen und Rationalisierung sind Voraussetzungen für Freiheit im Umgang mit Technologien und Medien. Darum setzt die evangelische Kirche digitale Bildung im Sinne von "digital literacy" auf die Agenda ihrer eigenen Bildungsangebote und fördert und unterstützt alle Initiativen, digitale Bildung im gesellschaftlichen Bildungskanon zu verankern..

Und Datenschutz? 

Teilhabe in der digitalen Gesellschaft hat unmittelbare Implikationen auf Datenschutz und Datensicherheit. Für die evangelische Kirche stehen dabei der Mensch und seine Freiheit und Autonomie im Mittelpunkt. Die Vorstellung einer naturgesetzliche Eigendynamik digitaler Prozesse widerspricht evangelischer Sicht auf die Gesellschaft. Dennoch sieht und anerkennt die evangelische Kirche, dass sich Vorstellungen von Datenschutz und Privatsphäre im Verlauf der Geschichte immer wieder geändert haben und weiter ändern. Es widerspricht evangelischem Verständnis, den Status Quo per se für besser zu halten als eine Veränderung.

Die eigenen Regeln zum Umgang mit Daten müssen dem Ziel dienen, das Evangelium in digitalen Räumen und Netzen zu kommunizieren. Datenschutz ist kein Wert an sich und kein Selbstzweck, sondern dient dem Schutz der Menschen vor staatlicher Überwachung. Heute muss dieser Schutz gegenüber Unternehmen und nicht-staatliche Organisationen ausgeweitet werden.

Datenschutz kann und darf aber nicht zum Rückzug aus der Welt und der digitalen Gesellschaft führen. Wo kirchliche Richtlinien eine aktive Kommunikation des Evangeliums in digitalen Räumen und Netzen verhindern oder Mitarbeitende von Kirchen in ihrer Arbeit in diesen Räumen und Netzen behindern, bedürfen sie einer Revision.

25.7.14

Meinung und Kontext und Medien

Kriegsberichterstattung finde ich grauenvoll. Nicht so grauenvoll wie Krieg, aber doch grauenvoll. Meine eigene Lösung dafür ist, dass ich mich aus den aktuellen Medien ausklinke und eher langsamere Medien nutze. Was mir leicht fällt, da ich TV eh nicht nutze und in Print und Online eher Wochentitel und Hintergrundgeschichten lese. Und mir zusätzlich über meine sozialen Filter eine Auswahl anderer Berichte schicken lasse (Twitter vor allem, teilweise auch Facebook).

Selbstverständlich kann es auch keine objektive Berichterstattung geben. Darum empfinden die meisten Menschen, mit denen ich über die Berichterstattung über den Krieg gegen Israel spreche, sie als einseitig. Einige als einseitig anti-israelisch, andere als einseitig pro-israelisch. Teilweise die gleichen Berichte.

Zwei Aspekte fallen mir dabei besonders auf, die mit Online und Social Media zu tun haben - und sich seit der Unsitte der embedded journalists auch noch mal verändert haben.
Und am Ende ein Bonustrack über extreme Unterschiede, wie Medien über einen antisemitischen Vorfall in Österreich "berichten". Ganz am Ende dieses Textes...


1. Asymmetrie der Bilder

Dass ich viele Berichte als anti-israelisch empfinde und dass viele Menschen, die Berichte sehen - selbst wenn sie sie nicht als parteilich erleben - einen Zorn auf Israel entwickeln, hängt nach meiner Wahrnehmung mit der Asymmetrie der Bilder zusammen. Der Münchner Historiker Wolffsohn weist auf die Bilder-Taktik in Guerrilla-Kriegen hin. Ich stimme ihm nicht in allem zu, aber es sind schon die Bild-Details, die die Berichterstattung so grauenvoll machen.

Tatsächlich empfinde ich das Beispiel der Kinder, die am Strand spielend tödlich getroffen wurden (und hier dann nicht nur die Bilder selbst sondern auch die Geschichte), da sehr bedenkenswert: Der Reflex ist bei vielen in meinem Umfeld gewesen: "Siehste, die Israelis schrecken nicht mal davor zurück, Kinder zu ermorden". Ein Nachdenken darüber, was und wie es passiert ist, findet nicht mehr statt. Beispielsweise die Frage, wieso sie da spielten. Dass die Eltern ja wohl, wenn wir einmal nachdenken, davon ausgingen, dass sie da sicher sind. Dass sie also ein Wissen, eine Erfahrung haben, dass die israelische Armee genau so etwas nicht machen wird. Dass es ihr dennoch passierte, ist grauenvoll und falsch. Und wird untersucht (wo gibt es das sonst in einem Land, das im Krieg ist?). Diese Überlegungen machen es nicht besser, setzen aber einen emotionalen Kontext, den Bilder eher verhindern.

Und weil es quasi nur Bilder gibt, die ein einseitges Bild zeichnen (was auch in der Natur dieses Krieges liegt), nur die eine Seite eomtionalisiert durch Bilder dargestellt werden kann, ist es auch logisch, dass verantwortungsvolle Journalistinnen in den Texten und Tonspuren wiederum hier eine Relativierung versuchen - so dass bei uns, je nachdem ob wir mehr auf den Text oder das Bild achten, beim gleichen Beitrag eine eher pro- oder anti-israelische Position hängen bleibt.


2. Persönliche Sichtweisen neben den Berichten

Vor allem Twitter bietet eine Möglichkeit, neben den "offiziellen" Berichten der Journalistinnen, die vor Ort oder in der Nähe sind, auch noch mehr über ihre Haltung, über ihr Herangehen zu erfahren. Und zumindest für die, die sich intensiver mit Medien beschäftigen, stellen diese - wenn auch immer als privat/persönlich gekennzeichneten - Accounts eine wichtige zweite Quelle dar. Die vor allem mir, der ich aufgrund der Berichte der letzten Jahre bei einigen Medien (vor allem ARD, Deutschlandfunk, Spiegel, aber auch Süddeutsche und einigen anderen Zeitungen) erstmal den Grundverdacht einer latent einseitigen Berichterstattung hege, helfen, zu erkennen, wie das zustande kommt und wo sich Journalistinnen dennoch bemühen, von ihrer eigenen Meinung zu abstrahieren.

Zwei Tweets von gestern von den Korrespondenten von ZDF und ARD sind für mich da exemplarisch. Dazu sei gesagt, dass der gesamte Twitteraccount bei beiden jeweils versucht, beide Seiten zu sehen und nicht besonders gefärbt ist. Und dass 140 Zeichen zu einer Verkürzung führen, die zuspitzt. Aber da sie beide Profis sind und Kurzformate "können", ist es aus meiner Sicht legitim, auch auf problematische Narrative in Tweets hinzuweisen.
Ist das "untersucht" ein Zitat? Oder eine Distanzierung? Die eine wird es so lesen, die andere anders. Gestern hatte ich bei den Retweets und den Tweets des ZDF-Mannes Sievers den Eindruck, dass er relativ klar Position bezieht - gegen Israel. Und das, obwohl das ZDF in den Nachrichten weit ausgewogener berichtet als die ARD. Manche Tweets von Sievers haben mich erschreckt, zugleich aber auch den Respekt dafür erhöht, wie er versucht, tatsächlich zu berichten aus einer Situation, in der die Anfälligkeit für Propaganda und spektakuläre asymmetrische Bilder extrem hoch ist.

Anders ARD-Mann Schneider. Ich finde bemerkenswert, dass er bewusst keine Bilder auf Twitter postet, auch nicht weitergibt, das auch begründet. Dass er immer wieder Position bezieht, oft zu den hochemotionalisierten Themen wie toten Kindern etc.

Und dann haut er so was raus - auf deutsch und englisch und also nicht unüberlegt, gleich auch noch zu Facebook gespielt - was mir den Magen umdreht:
Auf einer Linie mit dem grauenvollen Kommentar in den Tagesthemen von Sabine Rau. Antisemitismus als taktische Dummheit. Nicht als Verbrechen.

Auch in den Tweets und Timelines dieser beiden exemplarischen Beobachter und Berichterstatter erklärt sich mir der Unterschied in der Tonalität und Linie der Berichte in ZDF und ARD. Oft nur in Nuancen.


Bonustrack

Davon unberührt hat mich gestern sprachlos gemacht, wie extrem unterschiedlich zwei (Online-) Medien über den Versuch von Antisemiten berichteten, Spieler eines israelischen Fußballklubs zu verprügeln.

Der Focus schrieb:
Plötzlich herrscht völliges Chaos, schwarz gekleidete Aktivisten stürmen während eines Fußball-Testspiels im österreichischen Bischofshofen auf den Platz und attackieren die Profis des israelischen Clubs Maccabi Haifa. Die Spieler setzen sich zur Wehr.
Während die Welt das gleiche so formulierte:
Die antisemitischen Randale haben den Fußball erreicht: Nach einem Platzsturm wurde am Mittwoch ein Testspiel zwischen dem israelischen Spitzenklub Maccabi Haifa und dem früheren französischen Meister OSC Lille abgebrochen.
Das sind nur kurze Ausschnitte aus jeweils in der Tonalität so bleibenden radikal unterschiedlichen Artikeln. Hervorhebungen von mir.

22.7.14

Antisemitismen

Achtung: Hier folgen teilweise antisemitische Inhalte, die ich eingebunden habe, um ihren Antisemitismus zu zeigen. Bitte nicht weiterlesen/-sehen, wenn dieses nicht erträglich ist. Keiner der Inhalte bleibt unkommentiert und ohne Einordnung und Kritik.
In den letzten Wochen war ich teilweise sehr überrascht, wie viele Dinge mit offensichtlichem und - vor allem - weniger offensichtlichem Antisemitismus mir in meine Nachrichtenströme auf Twitter und Facebook gespült wurde. Vor allem von Menschen, bei denen ich mir sicher bin, dass sie erschrecken, wenn sie realisieren, welchen Kontext Dinge haben, die sie teilten.

Darum vorher ein bisschen Kontext für die Dinge, die ich hier zusammentrage:
  • Ich werfe niemandem Antisemitismus vor. Mir geht es darum, den tief liegenden, auch kulturell sehr tief verwurzelten Antisemitismus sichtbar zu machen, der hinter und unter bestimmten Erzählungen und Darstellungen liegt.
  • Es wäre naiv, anzunehmen, dass rund 2000 Jahre stabiler und wirkmächtiger Antisemitismus keine Spuren hinterlassen hätten. Sehr viel Literatur und sehr viel Denken bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ist von Antisemitismus und Judenhass durchzogen. Der Versuch der endgültigen Vernichtung sowohl der jüdischen Religion als auch des jüdischen Volkes hat das auf die Spitze getrieben. Damit ist in Europa eine neue Situation entstanden, die viele Menschen sensibel gemacht hat für die jahrhundertealte Tradition. Anderswo gab es diesen Bruch nicht.
  • So wie überall gibt es auch das Phänomen des Selbsthasses. Bei den Antideutschen, traditionell bei vielen russischen Intellektuellen, unter Jüdinnen. So wenig wie eine Antideutsche als Kronzeugin herhalten kann, dass alle Deutschen scheiße seien, so wenig kann jüdischer Antisemitismus helfen, zu begründen, warum etwas nicht antisemitisch sei.
  • Antisemitismus ist eigentlich das falsche Wort. Ja, das weiß ich, ich bin Theologe, remember. Korrekt müsste ich von Antijudaismus sprechen, denn Semiten sind alle semitischen Völker, darunter viele, in denen heute ein sehr großer Teil der Bevölkerung Israel vernichten will und Jüdinnen und Juden hasst. Aber politisch hat sich der Begriff Antisemitismus eingebürgert. Darum bleibe ich hier dabei. Vor allem aus Gründen der Verständlichkeit. Und weil in Europa Judenhass, seitdem er kritisiert wird, als Antisemitismus bezeichnet wird.

1. Die brutale Rachereligion

In den letzten Tagen wurde rauf und runter, vor allem auf Facebook, ein Video von 2012 geteilt, mit dem eine amerikanische jüdische Künstlerin auf das Lied "This Land is Mine" das ewige Abschlachten in dem Landstrich, in dem heute wieder Israel liegt, darstellt.

Dieses Video ist auf so vielen Ebenen unerträglich, dass es fast schwer ist, irgendwo anzufangen. Mein Pastor Peter Fahr hat es - pikanterweise als Reaktion auf die Veröffentlichung des Videos auf der Facebookseite unserer Kirchenzeitung - aber sehr gut zusammen gefasst. Denn das Video ist sowohl historisch als auch theologisch und politisch einfach nur falsch.

Was macht es antisemitisch? Vor allem zwei Aspekte, die sofort ins Auge springen: Zum einen, dass nur (und wirklich nur) die Juden im Video das Symbol ihrer Religion als Waffe benutzen. Niemand anders tut das. Die Muslime nicht mit dem Halbmond, die Ägypter nicht mit dem Skarabäus, die Assyrer nicht mit ihren Symbolen und so fort. Allein die jüdische Religion ist gewalttätig, in allen anderen Fällen ist es die weltliche Macht. Und zum anderen diffamiert bereits der Titel des Films in Buchstaben, die an das hebräische Alphabet erinnern sollen (und die ikonografisch exakt den Titel des wirkmächtigsten Nazifilms "Der ewige Jude" nachbilden), die jüdische Religion - wenn nur gezeigt wird, dass diesem Satz Gottes diese entsetzliche Gewalt folgt. Und die anderen Herrscher - Assyrer, Ägypter, Hethiter, Sumerer, Griechen, Römer, Araber, Kreuzfahrer, Engländer etc. - singen dieses Lied fröhlich weiter, als ob der jüdische Anspruch nur einer unter vielen wäre. Der Satz ist aber ein Satz Gottes. Und es wird in der Bibel immer wieder betont: Das Land gehört Gott und ist den Juden nur geliehen. Die historisch unwahre Gleichsetzung von Judas Makkabäus mit den Eroberern des Landes fällt da im Verhältnis kaum noch ins Gewicht und ist vielleicht nur für Thoeloginnen erkennbar.

Wenn jemand vorsichtig anmerkte, wie schlimm das Video sei, wurde oft geantwortet, dass doch aber Frau Paley eine anerkannte Künstlerin und außerdem Jüdin sei. Auch das ist aber ein unhistorisches Argument, das keines ist. Im 19. Jahrhundert waren unter den härtesten Antisemiten etliche Juden. Das ist - siehe oben der Vergleich mit den Antideutschen - sozusagen Normalität. Zumal ihre Website zeigt, dass sie selbst offenbar vom Hass auf ihre Religion und auf die Thora zerfressen ist.


2. Der Landklau

Auch dieses Bild wird viel rumgereicht, um zu zeigen, dass es mehr als verständlich sei, dass die Palästinenserinnen zornig seien und sich wehrten. Wie falsch und absurd dieses Bild ist, hat Bernd Schade ausführlich mit einer Bildmeditation geschrieben. Hier sei nur auf die wichtigsten Aspekte verwiesen.

Der antisemitische Kontext ist dabei vor allem das Narrativ vom raffgierigen Juden, der sich Land unter den Nagel reißt, das ihm nicht gehört. Verbunden mit der antisemitischen Erzählung, dass die Juden nun mal selbst schuld seien an ihrer Verfolgung und daran, dass alle andere sie hassen würden.

Das sind sozusagen die hinter diesem Bild liegenden Motive, die es sofort einleuchten lassen, dass im aktuellen Krieg gegen Israel eigentlich Israel und die Juden schuld sind. "Und die Juden" ist in diesem Fall notwendig, weil die Karten ja auch bewusst jüdische Siedlung vor der Staatsgründung mit einbeziehen. Das eigentlich perfide an dem Bild ist aber, dass es bei gleicher Färbung und teilweise gleiche Beschriftung komplett unterschiedliche Dinge abbildet. Bei Bernd ist es ausführlich dargestellt - aber zusätzlich werden auch, je nachdem, was opportun ist, um die Botschaft vom jüdischen Landraub zu untermauern, entweder jüdische oder palästinensische Siedlungsgebiete und Landbesitz einfach ausgeblendet. Mal so, mal so.

Es entsteht ein konsistentes Bild der systematischen Vertreibung der eingesessenen Bevölkerung durch die raffgierigen Juden, die darum nun mal damit leben müssen, dass sie wieder ins Meer geworfen werden sollen. Dass das weder mit diesen Karten tatsächlich gezeigt wird noch in dieser Form wahr ist, spielt dann kaum noch eine Rolle. (Bei allen Fehlern, die die Besatzungsmacht England, die die UNO, die auch vorher schon die zionistischen Siedlerinnen und Siedler gemacht haben, die unbestritten sind.)


3. Der ewige Jude

In der aktuellen Eskalation auf Demonstrationen zur Solidarität mit der Hamas und den Palästinenserinnen kommen etliche tiefe antisemitische Erzählungen an die Oberfläche. Tatsächlich hoffe ich ja, dass persönliche Berichte wie der von Juna vom Wochenende die eine oder andere nachdenklich machen, in welches Fahrwasser die eigene Solidarität da gerät.

Ich werfe niemandem vor, dass sie in der Bewertung der Schuld am aktuellen Krieg gegen Israel die gleiche Position vertritt wie offen antisemitisch agierende Menschen, ich möchte ja auch nicht, dass ihr mir vorwerft, dass ich in dieser Frage mit unappetitlichen Rechtspopulistinnen einer Meinung bin. Nur bitte ich darum, einmal zu gucken, inwieweit das antisemitische Motiv des "ewigen Juden" im Hintergrund schwelt.

An zwei Stellen wird das für mich deutlich. Zum einen tatsächlich an der Fixierung auf den Israel-Krieg. Erst der Krieg um Israel mobilisiert viele Menschen, emotionalisiert sie. Der Krieg um Syrien oder die Ukraine nicht. Das ist nicht an sich schlimm, offenbart aber eine Fixierung, die ohne einen Hinweis darauf, dass Israel ein jüdischer Staat ist, kaum erklärbar wäre. Auch der ewige Verweis auf Konzentrationslager und Nazis gehört in den Kontext. Die Vorstellung, das Volk, das knapp der vollständigen Vernichtung entkommen ist, habe sich moralisch und ethisch anders zu verhalten, ist zutiefst antisemitisch in seiner Fixierung auf den ewigen Juden.

Zum anderen hat mich wirklich bestürzt, was eine Freundin mir letzte Woche erzählte. Dass sie Jüdin ist, wusste ich nicht, sie erwähnte es nebenbei, als wir über antisemitische linke Kommentare sprachen, die einige auf meiner Facebook-Seite hinterließen, bevor ich sie blockte. Und sagte, dass sie in ihrem Studium und in ihren Jobs (vollkommen akademisches Mittelschichtumfeld ohne muslimische Einwanderer) oft die Antwort bekam, sie sähe gar nicht aus wie eine Jüdin, wenn beiläufig bekannt wurde, dass sie eine ist.

Das "meint niemand böse" und wahrscheinlich ist sich auch kaum eine bewusst, dass es nicht mehr nur verdeckt sondern offen antisemitisch ist - aber das erschreckt mich doch. Es ist erklärbar, Jahrhunderte Erzählung vom "ewigen Juden", eine systematische Vermessung von Nasen etc. müssen ja nachwirken. Aber es ist weder eine Kleinigkeit noch witzig.


4. Die Kinderschänder

Ob Brunnen vergiften oder Kinder schänden - "die Juden" sind immer an allem Schuld gewesen. Ich nehme an, dass Jürgen Todenhöfer, der wieder einmal im TV seine kruden Thesen ausbreiten darf, jede verklagen würde, die ihn einen Antisemiten nennt (was übrigens auch ein typisches Motiv ist, auch in von mir beendeten und gelöschten Kommentaren auf meinem Facebook-Profil gab es Klagedrohungen bei Hinweisen auf antisemitische Muster in Argumentationen). Mit seinen Fotomontagen oder gestellten Fotos auf Facebook aktuell bedient er aber klassische Erzählungen.

Wie mit dem leuchtend staubfreien Kinderspielzeug in zerstörten Häusern. Ohne auch nur ein offen antisemitisches Wort sagen zu müssen, schreit dieses Bild: Seht her, diese Juden schänden die Kinder. Vergiften die Brunnen. Während die armen Opfer, wenn sie sich wehren, lediglich eine Sauna zerstören. Was ein weiteres Motiv bedient - denn was drückt den absurden Reichtum "der Juden" besser aus als eine Sauna (!) in einem der heißesten Flecken rund ums Mittelmeer. Der jüdische Wucherer lässt grüßen.

Dass Todenhöfers Bilder und Geschichten so einen Widerhall finden, hängt auch (nicht nur, klar) mit den tiefen, über Jahrhunderte gewachsenen Ressentiments und Vorurteilen zusammen, was und wie Juden seien. Er muss und wird (nehme ich an) keine antisemitischen Worte nutzen. Braucht er auch nicht.


5. Auge um Auge

Der historische zivilisatorische Fortschritt, aus Rache keine Eskalation zu suchen sondern nur eine Kompensation, wurde in der europäischen Geschichte des Antisemitismus immer wieder gegen die jüdische Religion gewandt. Hier die Rachereligion (siehe oben), da die andere Wange, die hingehalten wird.

Dass die Autoritäten der Palästinenserinnen statt Bunkern und Schutzzäunen und einer Raketenabwehr lieber Abschussrampen und Tunnel für den Waffenschmuggel bauen, ist fast egal, wenn das Ungleichgewicht der Kinder, die in diesem Krieg sterben, so krass ist.

Wenn radikalisierte Menschen sich als Schutzschild auf Waffenlager stellen, kann man sie dann wirklich Zivilistinnen nennen? Und dass Israel seine Bevölkerung schützt, Bunker baut, Warnungen rausgibt, einen Zaun und eine Raketenabwehr installiert, ist wertlos, wenn es nur dazu führt, dass die Schuldfrage durch das Zählen von toten Menschen moralisch eindeutig geklärt werden kann.

Dass sie nicht die andere Wange hinhalten, dass sie sich weigern, sich ausrotten zu lassen - dieses gegen Israel zu verwenden, ist anders als mit Antisemitismus kaum noch erklärbar. Vielleicht ist es eher das "ewiger Jude"-Motiv, ich weiß es nicht. Aber der Bodycount, das Aufrechnen von Toten in diesem Krieg für eine moralische Bewertung der Schuld an diesem Krieg, lässt mich fast ratlos zurück, nachdem der ohnmächtige Zorn sich gelegt hat. Denn diesem Punkt ist mit Argumenten noch weniger beizukommen als den anderen, klarer antisemitischen Motiven. Er ist einfach nur absurd und verquer.

9.7.14

Krieg gegen Israel

Krieg ist immer scheiße. Punkt. Richtig scheiße. Und unendliches Leid. Ich kenne Krieg nicht und bin froh darüber. Aber ich kenne Menschen, die seit Jahren im Krieg leben. Gegen die seit Jahren ein Krieg geführt wird, der in den meisten Medien und auch Diskussionen in Deutschland als "Nahost-Konflikt" verharmlost wird.

Für Krieg gibt es nie nur eine Schuldige. Schuld ist ohnehin eine Kategorie, die schlecht passt. Es gibt Ursachen und es gibt Motivationen. Und es gibt, immer, Profiteure.

Was beim Krieg gegen Israel oft vergessen wird, ist, dass er schon so lange geht. Und dass Israel in der Vergangenheit große Fehler gemacht hat. Ich bin nun wirklich kein Fan von Netanyahu, die meisten Menschen, die ich in Israel kenne, gehören eher zur Linken und waren lange in der Friedensbewegung. Aber mein Eindruck ist, dass der linke Künstler Yali Sobol in einem Interview mit der NZZ ganz gut die verlorenen Illusionen wiedergibt:
Ich wuchs in einem Haus auf, in dem man an den Friedensprozess und an die Zweistaatenlösung glaubt. Aber ich bin nicht sicher, ob das noch in dieser Generation möglich ist. Als Mitglied der Friedensbewegung habe ich an vielen Demonstrationen teilgenommen. Ich hielt Banner hoch mit der Aufforderung, die Golanhöhen zurückzugeben. Wenn man aber sieht, was in den letzten zwei Jahren in Syrien passierte, muss man sich fragen: Was wäre geschehen, wenn wir den Golan tatsächlich an Syrien zurückgegeben hätten?
Es ist ein bisschen zum Verzweifeln, dass Berichte und Kommentare, die aus dem Propaganda-Mainstream gegen Israel ausbrechen, fast nur in mir politisch unerträglichen Medien erscheinen, wie der Welt beispielsweise. Dass vor allem in der deutschen Linken, die doch in Anspruch nimmt, gegen Kriege zu sein und sensibel auf Machtstrukturen und Manipulationen zu achten, die Schuldfrage so eindeutig beantwortet wird (nicht von allen, aber doch von vielen).

Meines Erachten ist es an der Zeit, spätestens jetzt, wo die Offensive auf allen Ebenen läuft, Israel endgültig zu vernichten, Stellung zu beziehen, und die eigene indifferente Meinung und Haltung aufzugeben.

Zu den Fehlern der Linken in Europa und in Israel gehörte in den letzten 20 Jahren meines Erachtens, dass sie zu optimistisch auf Friedens- oder zumindest Koexistenzmöglichkeiten gesetzt hat, ohne die eine Voraussetzung zu bedenken, die die große Golda Meir schon 1957 (schon Neunzehnhundertsiebenundfünfzig!!!) gesehen hat:
Peace will come when the Arabs will love their children more than they hate us.
Es gibt meines Erachtens, ungeachtet aller Komplexität und aller Verantwortungen aller Seiten und aller Verbrechen, die alle Seiten in diesem Krieg begehen, nur einen Schlüssel, um diesen Krieg ohne einen "Siegfrieden" Israels zu beenden, was ja ebenfalls kaum möglich scheint: Wenn die, die den Krieg gegen Israel führen, es nicht mehr vernichten wollen. Oder ihre Bevölkerungen sich von ihnen abwenden. Beides ist zurzeit nicht wahrscheinlich. Zumal Europa und die UN keinerlei Impulse geben, dass sie diesen Schlüssel für relevant halten. Sondern im Gegenteil judenfreie Konferenzen befördern - wieder einmal jüngst beim Gipfeltreffen der Arfikanischen Union.

Es ist Zeit, die eigene indifferente Meinung und Haltung aufzugeben. Und Stellung zu beziehen an der Seite Israels.

In diesen Tagen lohnt sich mehr noch als sonst der tägliche, mindestens tägliche Blick auf eine linke, deutschsprachige Stimme aus Israel, die ohne Ende Quellen und Bilder und Erlebnisse und Einordnungen liefert. Selbst wer sich nicht mit mir auf die Seite Israels stellt in diesem Vernichtungskrieg gegen dieses Land, kann hier sicher einige Impulse finden, die Propaganda und Nicht-Berichterstattung deutscher Medien zu ergänzen. Lila, deren Blog ich auch in friedlicheren Zeiten immer gelesen habe. Und in dem ich auch diese kleine Liste fand, die bestimmt den einen oder die andere überraschend wird, die in den letzten Tagen nur von der Mobilmachung der israelischen Armee las. Lila zitiert aus Elder of Ziyon:
June 27: 6 rockets, 2 intercepted
June 28: 3 rockets, Sderot factory burned to ground
June 29: 4 rockets, 2 intercepted
June 30: 16 rockets
July 1: 5 rockets, several mortars, damage to vehicles and a major fire as a result, also mortars
July 2: 10 rockets, 9 mortars, 1 intercepted
July 3: 13 rockets, homes and a summer camp damaged
July 4: 25 rockets, several mortars, 3 intercepted
July 5: Over 20 rockets, including to Beersheva, several mortars, 3 intercepted, some damage and an injury
July 6: Over 25 rockets, some damage
July 7: Over 85 rockets, Hamas claimed to shoot 100 and Islamic Jihad claimed to shoot 60. 13 intercepted
July 8: At least 160 rockets, 7 intercepted, so far, some damage and injuries
In diesem Zusammenhang erschließt sich vielleicht, warum ich die Kritik am Sicherheitszaun ("Mauer" in deutsche Medienterminologie) und am Raketenabwehrsystem und unbemannten Fahrzeugen so nicht teile. Wer der Meinung ist, dass Israel nun den ersten Schritt gehen müsse, dass Israel sich zurück halten solle, dass Israel in Vorleistung auf einen Frieden zu gehen habe und verantwortlich für den Vernichtungskrieg gegen sein Land und sein Volk sei - wer diese Meinung ernsthaft vertritt, setzt Israel bewusst oder unbewusst der Vernichtung aus. Dann sagt es wenigstens auch.

Denn ansonsten ist es Zeit, die eigene indifferente Meinung und Haltung aufzugeben. Und Stellung zu beziehen an der Seite Israels.

Goya War2.jpg
Goya War2“ von Francisco de Goya Lizenziert unter Public domain über Wikimedia Commons.