29.2.12

Tilt Shift

Ich bin ein großer Fan von Keith Loutit, einem, wenn nicht dem, der Pioniere der Tilt-Shift-Ästhetik, die reale Szenen in eine Art Miniatur Wunderland verwandelt. Mal etwas kurz gesprungen und fast falsch, in jedem Fall aber allzu holzschnittartig erklärt. Dass diese Ästhetik über so was wie Instagram für alle Amateure zugänglich ist, macht es noch faszinierender.

Über Facebook (und leider ohne wiederzufinden, über wen) stolperte ich über ein ganz großartiges aktuelles Projekt von Loutit. Zurücklehnen und die knapp sechs Minuten genießen.

27.2.12

Von Konditoreien und Eierschecken

Damals, als ich noch zur Grundschule ging, wusste jeder bei uns, dass Rüdiger Nehberg, wenn man Glück hat, in seiner Backstube steht, oder wie auch immer der Raum heißt, in dem Konditoren arbeiten. Schon deshalb gingen wir da hin, auch wenn es mit dem Rad etwas weiter war als meine Eltern mir erlaubten (aber immerhin nicht ganz so weit wie das Freibad, in das wir auch ein paar Mal fuhren, allein, mit dem Rad, wenn ich da heute drüber nachdenke und mir vorstelle, meine beiden Kleinen würden allein so weit ins Freibad... Aber das ist ein anderes Thema). Kam ich gestern Abend drauf, als mein bester Freund meinte, dass die Malagatorte von Nehberg immer noch seine Lieblingstorte sei und die seines Mannes. Und dass die dafür auch durch die halbe Stadt führen, glücklicherweise liege Nehberg ja direkt an der U-Bahn Wandsbek-Gartenstadt (gell, @svensonsan?).

Und dabei fragte ich mich, was eigentlich aus all den tollen Konditoreien geworden ist. Boysen im Hofweg scheint es noch zu geben (weltbeste Eierlikörtorte). Aber Rehbock, der einmal Hamburgs kleinste Konditorei in der Berner Straße betrieb und seinen legendären Stollen tatsächlich mit der Hand knetete, oder Iwohn in der Eulenkrugstraße in Volksdorf, dessen Eierschecken nie wieder irgendwer erreichte? Dass die irgendwann aufhören, klar. Herr Rehbock war schon alt, als ich erstmals seinen Laden betrat vor ungefähr 30 Jahren. Und Herr Iwohn ebenso.

Aber wieso geben die eigentlich ihre Rezepte nicht weiter? Und wieso gibt es bei uns da draußen keine gute Konditorei mehr sondern nur si 08/15-Zeugs oder Jacobs? Für Stachelbeertörtchen und Stollen habe ich irgendwann Ersatz gefunden, der beinahe mithalten kann (aber eben nur beinahe). Aber die Eierschecke? Nie. Ganz, ganz selten gibt es mal Bäckereien oder Konditoreien, die welche im Angebot haben. Immer probiere ich das aus. Und nie esse ich es auch nur bis zum Ende des ersten Stücks.

Ich glaube, Iwohn weiß gar nicht, was er nicht nur mir sondern auch allen anderen, die ich kenne, die seine Eierschecke kannten, angetan hat.

23.2.12

Was wichtig ist

Wenn deine Kinder sich auf den Hund freuen und ihn am Sonnabend besuchen gehen.



Wenn dein Kind nach zwei Wochen Lungenentzündung wieder zu Schule gehen kann.

Wenn ein Mensch, der dir wichtig ist, von der Intensivstation kommt. Auch wenn er noch lange nicht außer Gefahr ist. Und wenn jemand da ist für die, die Angst haben.

Wenn jemand, die du schätzt, rechtzeitig die Notbremse zieht, bevor sie aus der Bahn fliegt.

20.2.12

Schubladen My Ass. Oder: Gauck ist sperrig

Da ich im Konflikt Freiheit/Sicherheit für Freiheit bin - bin ich ein Liberaler?
Da ich für ein bedingungsloses Grundeinkommen bin - bin ich ein Linker?
Da ich Ehescheidung und Abtreibung ablehne - bin ich ein Rechter?
Da ich Kirchhoffs Besteuerungsmodell für Familien interessant finde - bin ich ein Libertärer?
Ich muss noch mal was zu Gauck schreiben, bitte entschuldigt. Aber ich finde so vieles so extrem albern. Anscheinend ist es so mühsam, dass Gauck nicht so Recht in Schubladen passen will. Das liegt vor allem daran, dass er wirklich meint, was er sagt - und dass er sich so nachhaltig weigert, seine Äußerungen auf ein auf Twitter zitierfähiges Format zurückzustutzen.

So groteske Zitatschnipselsammlungen wie Malte Lehmings unsäglicher für den Tagesspiegel leicht aktualisierter Kommentar oder das methodisch an religiöse Fundamentalistinnen erinnernde Piratenpad zu Gauck zeigen mir vor allem eines: Es lohnt sich, die Schnipsel im Zusammenhang zu sehen oder zu lesen.

Denn ja, Gauck sagt Sätze, die auch mich irritieren und/oder verstören. Aber er sagt sie in Zusammenhängen, die Fragen stellen und einen Bogen aufspannen. Sei es zur Vorratsdatenspeicherung. Sei es zu Sarrazin. Und aus der Feststellung, die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze habe Vertriebene verletzt, zu schlussfolgern, Gauck sei wie Erika Steinbach oder meine, diese Verletzung wäre nicht nötig gewesen, ist dann schon nicht mehr nur lustig und unbeholfen sondern ernsthaft bösartig. -
Update mittags Patrick Breitenbach hat die Quellenlage in einem langen Beitrag heute sehr schön nachgezeichnet. Ebenso wie Christian Jakubetz im Cicero. Euch beiden danke dafür. /Update

Wenn Gauck konservativer ist als die CDU, dann bin ich das auch. Wenn er für die seit den 90ern verstorbenen CDU-Mitglieder steht, bin ich wohl tot. Er ist sperrig und aus der Zeit gefallen. Aber genau das macht seine Kraft aus.

Er scheint nicht in die bekannten Schubladen zu passen, was einige meiner Freundinnen irritiert. Aber die irritiere ich auch immer wieder. Wahrscheinlich wären einige von denen auch irritiert, wenn sie in der Kohlenstoffwelt mal mit normalen Menschen in ihren Reihenhäusern am Stadtrand reden würden.

Was ich bei Gauck sehe, ist eine Person, die eine Haltung hat, die von sehr weit her kommt und sich in einem langen Leben bewährt hat. Das mag sperrig wirken. So what. Aus nahezu allem, was ich von ihm bisher gesehen und gehört und gelesen habe, spricht der norddeutsche Lutheraner. Eine Lebensform, die vielen sicher fremd ist, die die wenigsten in meinem Umfeld (noch) kennen. Und die eine faszinierende Mischung aus radikalem Haltungs-Konservatismus und politischem Liberalismus darstellt. Für die kennzeichnend ist, dass sie eben jenseits von ewigen Gewissheiten und diesseits von moralischem Rigorismus argumentiert (und schon das Argumentieren an sich ist ja heute vielen suspekt, denen Meinung wichtiger ist als der Diskurs).

Aber vielleicht projiziere ich auch nur wieder meine eigene Haltung und meine eigene Biografie. Was, übrigens, auch ein spannender Effekt sein kann.

Lasst euch nicht vergauckeln

Als er noch chancenloser Zählkandidat der Opposition war, fanden ihn viele toll. Und nun trollen sie rum, teilweise die gleichen. Meine "Timeline" bei Facebook und Twitter brachte im Grunde diese Dinge vor:
1. Gauck sei ein Faschist, weil er gegen die Oder-Neiße-Linie als Ostgrenze sei.
2. Gauck sei ein rechtskonservativer 50er-Jahre-Typ, weil er erst einmal einen Döner gegessen habe und mit Mulitkulti nicht anfangen könne.
3. Gauck finde Sarrazin gut.
4. Gauck sei von einer Verschwörung aus Springer, Scholz & Friends und Bertelsmann erst gemacht worden.
5. Gauck sei ein Knecht des Großkapitals, weil er Occupy albern finde.

Was mich daran am meisten erschreckt (und ich wähle das Wort, obwohl ich zu geschätzt 60% nicht mit seinen Positionen übereinstimme, die er an der einen oder anderen Stelle formuliert hat), ist die reflexhafte Dummerhaftigkeit und mangelnde Medienkompetenz in diesem Getrolle. Ist es wirklich so, dass unter Leuten, denen ich online gerne folge, weil sie - dachte ich - ähnlich sind wie ich, so viele sind, denen alles jenseits von schwarz und weiß undenkbar ist? Die abgestumpft oder unsensibel genug sind, Zwischentöne und Zerrissenheiten nicht mehr zu sehen? Die nicht erkennen können, dass es einen Unterschied gibt, ob ich Fragen verstehe oder die Antworten darauf teile?

Vielleicht fällt es mir leichter, zu verstehen, was Gauck meint und sagt, weil ich aus einem ähnlichen geistlichen und geistigen Kontext stamme wie er, auch wenn ich aus den gleichen Wurzeln teilweise andere Triebe sprossen ließ. Aber tatsächlich scheint es mir kein Zufall zu sein, dass unter den Gauck-Trollen in meinem politischen und Onlinefreundinnenkreis so viele ideologische Religionsverächterinnen sind. Denn in evangelischen Kontexten, vor allem in deren konservativer Prägung, zu denen ich ja auch gehöre, ist einer der letzten Horte differenzierter Betrachtungen zu Hause. Was an Luthers allzu selten verstandener größten theologischen Leistung liegt: dem pecca fortiter fortius crede, der Unterscheidung der Entschuldung des Sünders von der Entschuldigung der Sünde.

Nach vier desaströsen Präsidenten kann Gauck einer werden, der Impulse und Haltung gibt. Muss nicht, aber kann. Und einiges vom dem, was einige Weggefährtinnen als allzu konservativ fürchten, schreckt mich nicht. Denn aus einer konservativen Haltung eines Gauck muss keine konservative Politik werden. Siehe (historisch) Erhard Eppler. Und eine konservative Politik geht auch ohne konservative Haltung. Siehe (aktuell) Angela Merkel.

Ich teile viele Kritik an Gauck. Aber das, was ich gestern von so manchen Onlinestars gehört habe, war ein erschreckendes Zeugnis mangelnder Medienkompetenz.

Update um die Mittagszeit
/Update

P.S. Ich habe lange hin und her überlegt und schiebe jetzt doch noch einen Hinweis zum Kommentieren nach: an diesem Post werde ich alle anonymen Kommentare löschen. Und ich bitte euch, mich nicht für dümmer zu halten als euch selbst. Ok?

17.2.12

Mutti muss ran

Update 20.2.
Ok, ich hatte (selbstverständlich) nicht Recht. Hust.
/Update


Als Horst Köhler ein paar Monate im Amt war, dachte ich ja schon, dass es keinen schlechteren Präsidenten geben kann. Es gab frömmelndere (Rau), dümmere (Lübke*), bigottere (Herzog), hölzernere (Carstens) und so weiter. Aber keinen vorher, der so ungeeignet war. Und dann kam Wulff. Von dem bereits bekannt war, dass er zu rund 100% den Durchschnitt der Bevölkerung repräsentiert: Gierig, ehebrecherisch, schlitzohrig, bieder. Ich war darum gegen den Rücktritt. Weil er eben einfach zu diesem Land passt (und um das zu sagen, muss man ja nicht mal Antideutscher sein).

Jetzt muss es Merkel selbst machen. Denn sie wird es nicht über sich bringen, die Käßmann zu bitten und zu unterstützen, dafür ist die zu fest in links-kirchlichen Strukturen drin. Und Gauck? Erst Recht nicht, denn das wäre das Eingeständnis völligen Scheiterns. Für Mekel spricht alles. Denn damit können alle leben. Sie selbst auch. Außer vielleicht Schäuble...

1. Merkel kann es.
Ihre Kanzlerschaft ist vom Stimmungssurfen geprägt und ohnehin sehr präsidal vom Stil. Ihre pastorale Art passt zu dem Amt besser als zu jedem anderen. Sie hat - so wenig ich sie persönlich mag - einen funktionierenden Wertekompass und den Hauch einer Biografie.

2. Es ist Merkels große Chance
Die nächste Bundestagswahl kann sie als Kanzlerin ohnehin nicht überleben. Kein Partner mehr da, eine strukturelle Mehrheit links von der CDU, eine erodierende Partei. Wenn sie nun Bundesmutti wird, muss sie nicht in einen aussichtslosen Wahlkampf ziehen.

3. von der Leyen will sie loswerden
Seit vielen Jahren arbeitet Ursula von der Leyen zielstrebig auf die Kanzlerinnenschaft hin. Jede ihre Äußerungen und Schwenks ist damit erklärbar. Leute, die ich kenne, die sich in der CDU sehr gut auskennen, reden seit Jahren davon, wie kalt und stringent sie auf dieses Ziel hinarbeitet. Sie wird alles dafür tun, dass Merkel Bundespräsidentin wird, denn dann ist der Weg für sie offen. Und selbst eine Wahlniederlage wäre kein Schreck für sie: Sie wäre schließlich nicht wirklich schuld.

4. Die Opposition, vor allem die SPD, wäre damit gut eingebunden
Denn Merkel ist die mit Abstand stärkste Waffe der CDU für den bevorstehenden Bundestagswahlkampf. Das zeigen ja auch die Überlegungen der SPD, Merkel nicht direkt anzugreifen. Wenn sie Bundespräsidentin wäre, wäre die SPD ein Problem los: Dass Merkel weit populärer ist als ihre Partei. Und: Sie haben ja gut zusammen regiert, Merkel wäre genau die überparteiliche Kandidatin.

Ihr seht also: An Merkel als Bundesmutti führt kein Weg vorbei. Und es wäre auch halbwegs originell und würde zu ihr passen.

Update 20.2.
* Und weil der eine oder die andere hier und auf anderen Kanälen vor allem dieses kritisierte: Nein, ich meine nicht den kranken Lübke und mache mich nicht darüber lustig. Wer ein bisschen über meinen familiären Hintergrund weiß, wird nachvollziehen können, dass Demenz nicht mein bevorzugtes Spaßthema ist. Dass Lübke auch vorher keine Leuchte war, ist eher das Thema hier. Und ja, ich habe mich mit Lübke intensiver beschäftigt. In der Zeit, als ich mich mit Architektur und der Gruppe Speer intensiv auseinandersetzt habe. Und ja, ich habe die Einschätzung von Leuten, die ihn kannten, bevor er öffentlich krank war.
/Update

16.2.12

Wahnsinn und Wertschätzung

Ein paar Splitter aus dem Alltag der digitalen Kommunikation.

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Eigentlich nur verlinkt, dieser wunderbare Text des mit großem Abstand besten Redners aus dem deutschen Digital-Konferenz-Fortbildungszirkus, Martin Oetting. In dem er den Begriff Fartbreeze prägt, um die Absurdität der Shitstorm-Krakeeler zu verdeutlichen. Damals, ihr wisst schon, als Sascha dieses Wort noch nicht popularisiert hatte, da gab es noch welche. Geht mal rüber zu Martin zum Lesen, kommt danach gerne wieder. Und vor allem: Glaubt keiner, die von einem Shitstorm faselt, wenn Kundinnen oder Spinnerinnen oder Süchtige oder Erleuchtete sich konzertiert beschweren und für drei Tage eine Facebook-Seite kapern. Und erinnert euch daran, dass es nur einen einzigen Fall weltweit gab, in dem eine Onlineerregung zu einem messbaren Umsatzrückgang führte. Und nicht mal da gab es eine einzige nachhaltige Wirkung. Damals, als in der arabischen Welt das Gerücht online aufkam, Philip Morris lasse die Zigaretten für den arabischen Markt in Israel produzieren. Glaubt dem Opa einfach mal, wenn er vom Krieg erzählt.

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Ich bin ja kein großer Freund von Fortbildungen zu "Social Media", wisst ihr ja schon. Aber wenn, dann gibt es ungefähr eine gute Institution, denke ich. Kein Wunder, dass Martin da auch immer mal wieder spricht. Ich auch übrigens. Und auch, wenn der eine oder die andere auch weitere Angebote sinnvoll finden mag - ob das sein kann, könnt ihr sehr einfach feststellen, wenn ihr mal fragt, wie die ihre Referentinnen und Lehrerinnen bezahlen. Kleinere oder mittlere dreistellige Summen werden ja oft noch unterschritten und auch das ist schon frech. Den Gipfel erlebte ich diese Woche, als ein Anbieter eines neu zu schaffenden Weiterbildungsportals im Agenturbereich doch allen Ernstes fragte, ob ich, wenn ich ohnehin einen Vortrag halte, nicht noch gleich eine elaborierte Kurzversion für sie machen könne, die würden sie dann aufzeichnen, so mit Kamera, und als Lehrfilm nutzen. Nein, ein Honorar gebe es nicht, ja, die Teilnehmerinnen am Portal müssen dafür bezahlen. Aber da seien ja auch Studentinnen dabei, das sei doch für mich interessant. Nö.

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Da kam diese Seminareinladung auf den Tisch. "Aus Kunden Fans machen" so ungefähr. Gemeint war Facebook. Und nicht etwas eine Verbesserung der Produktqualität. Kinners, das ist nicht euer Ernst, oder? Das ist ein bisschen 2010, doo. Andersrum wird ein Schuh draus: "Aus Fans Kunden machen". Das ist das Thema dieses Jahres. Und das macht auch echt Spaß.

14.2.12

Wider die Vulgarisierung der Diskussion um Urheberrechte durch die Piraten und den Boulevard

Friedrich Küppersbusch bringt es gestern in der taz auf den Punkt. Am ersten Werktag nach den ACTA-Demos und dem ersten Tag, nachdem der versammelte Boulevard von Focus über Spiegel bis Tagesschau (ok, die etwas weniger vulgär) das Thema ebenso verfehlt hat wie die meisten Piraten. Es geht nicht gegen das Urheberrecht. Es geht gegen das (industrielle) Verwertungsrecht.
[Frage:] Das Urheberrechtsabkommen ACTA treibt Menschen auf die Straße. Am Samstag wurde europaweit gegen das Abkommen demonstriert. Haben Sie verstanden, warum?
[F.K.:] Weil es kein Urheber-, sondern ein Verwertungsrechtsabkommen ist. Ein Beispiel: Die Süddeutsche Zeitung druckte Interviews und Texte über Produktionen meiner Firma. Wir stellten es - stolz, na klar - auf unsere Homepage. Eine Anwaltskanzlei mahnt uns ab, und wir zahlen der Süddeutschen jedes Mal 500 Euro für Content, der auf unserer Urheberei beruht. Anderes Beispiel: Der Westdeutsche Rundfunk hat im großen Verlegerbeschwichtigen der WAZ-Gruppe seine Archive geöffnet. Ergebnis : Wenn ich einen alten Beitrag von mir herzeigte, kann mich sowohl die Westdeutsche Allgemeine Zeitung wie auch der WDR verklagen; der Einzige, der definitiv keine Rechte an seinem Werk hat, bin ich - der Urheber. ACTA verstärkt die Macht der Vermarkter gegen Verbraucher und Urheber entscheidend weiter; es ist ein Selbstmordversuch für ideengetriebene Volkswirtschaften. Der Furor vieler Piraten, bei der Gelegenheit das Urheberrecht gleich mit abzuräumen, macht es schwer mitzudemonstrieren.
Küppersbusch in der taz
Es ist extrem schwer, einer sinnvollen Position zurzeit Gehör zu verschaffen, weil abstrus überzogene Positionen einerseits und aggressiv kurz gedachte Engführungen von Urheber- und Verwertungsrechten andererseits aufeinander einprügeln. Besonders betrübt es mich dabei, wenn Verbände von Kreativen wie der Deutsche Komponistenverband (gemeinsam mit dem Deutschen Textdichter-Verband*) Formulierungen wählen wie, es würden "Existenzgrundlagen der Kreativen und Kulturschaffenden geopfert und angegriffen, und zwar zugunsten eines Konsumenten–Schlaraffenlands, das sich dem Götzen einer „innovativen“ Netz-Gratis-Mentalität anbiedert und nicht gewahr wird, dass mit den Daten der Konsumenten der eigentliche Profit an anderer Stelle in einem unverhältnismäßig großem Ausmaß gemacht wird"** - so in seiner verschwurbelten Stellungnahme zum langen Parteitagsbeschluss der Grünen zu dem Thema (Link geht auf das pdf), der nun wirklich nicht radikal oder weitgehend ist.

Jan Philipp Albrecht, Abgeordneter im Europaparlament, hat das am Sonnabend in Hamburg ebenso wie Küppersbusch gut zusammengefasst:



Erst wenn es gelingt, die vulgäre Interpretation des Themas durch viele Piraten und den Boulevard, die sich absurderweise ja gleichen wie ein Ei dem anderen, hinter uns zu lassen, werden wir es schaffen, den kulturellen Bruch zu kitten. Den Bruch, der dadurch entsteht, dass Menschen, die sehr viel und sehr "natürlich" das Internet nutzen, merken, dass die von der Verwertungsindustrie versuchte Kriminalisierung aller Begeisterung für kreative Erzeugnisse mit ihrer Welt kollidiert - obwohl sie weiterhin auch Musik und Filme und Bücher kaufen, in Konzerte und ins Kino gehen und so weiter. Keiner einzigen Kreativen und keinem einzigen Werk ist damit gedient, dass sich die Verwertungsindustrie immer weiter von der Lebenswirklichkeit von rund 110% der unter 30-jährigen und rund 75% der 30- bis 50-jährigen abkoppelt.

Solange Kreative auf die vulgäre Propaganda der Verwerter hereinfallen und Konsumentinnen auf die ebenso vulgäre der Piraten - so lange werden wir nicht weiter kommen, denke ich. Mut macht mir dabei, dass ich keine Jugendliche kenne (und ja, ich kenne viele, wenn auch nur einen kleinen Ausschnitt von überwiegend Vorortjugendlichen aus Bildungsschichten), die eine der beiden vulgären Positionen überzeugend findet.

* Der Deppenbindestrich steht im Schreiben des DKV, in dem er erklärt, auch für die Dichterinnen zu sprechen. Für den kann ich also nix.
** Ob die Stellungnahme online vorliegt, weiß ich nicht, ich habe sie als pdf geschickt bekommen und daraus hier zitiert. Sie ist ohne Datum versehen und es steht Jörg Evers drunter. Die Echtheit habe ich nicht hart verifiziert.

13.2.12

Alle feuern. Alle. Und zwar wirklich alle.

Ich kann mich Sven nur vollinhaltlich anschließen. Das, was in Deutschland rund um Jugendmedienschutz passiert, wenn es um das Internet geht, ist nicht nur totaler Humbug und vollkommender Schwachsinn, der technisch sinnfrei und nutzlos ist, sondern auch noch völlig bekloppt. Oder in Svens Worten:
Ich hatte auf mehr gehofft, aber so bleibt der weltweit einmalige deutsche Sonderweg zum Jugendschutz, namentlich die Freiwillige Selbstkontrollen FSM, USK, FSK, FSF, Kommission für Jugendmedienschutz (KJM), öffentl.-rechtl. Rundfunk (ARD, ZDF, Deutschlandradio), Vertreter der Obersten Landesjugendbehörden (OLJB), Vertreter der Politik (Bund, Länder), Vertreter von Verbänden (u.a. BitKom, eco, VPRT), Vertreter von Unternehmen und Anbieter von Jugendschutzprogrammen ein einziger, realitätsferner Schwachsinn von alten Männern mit Kugelschreibern aus einem anderen Jahrtausend.
Neues vom JMStV und Jugenschutz im Internet › pop64.de | Hamburg vs. Berlin Blog
Dass er unseren Weg, mit dem Thema umzugehen, positiv verlinkt, ist nur ein klitzekleines Indiz, dass er Recht hat (hihi).

So lange es Unternehmen, Institutionen und Verbände gibt, die so einen Oberscheiß auf dem Markt werfen und das auch noch ein sinnvolles Angebot nennen, muss sich wohl niemand wundern, dass sich junge Leute vollkommen von den Generationen vorher abkoppeln, wenn es um Politik und ihre Lebenswirklichkeit geht.

Dass die Kasper aus dem kulturellen und erzieherischen Desaster der Generation meiner Eltern mit den Videospielen nichts gelernt haben und rund um dieses komische Internetz die Verhaltensweisen wiederholen, einfach die Augen zu schließen oder Blödfug zu fabrizieren, ist einerseits tragisch. Und andererseits ja auch ok. Wenn die so einen hirnverbrannten Kram auf den "Markt" werfen, lassen sie uns und unsere Kinder wenigstens in Ruhe. Nur schade um die Leute mit Kindern, die auf diesen Scheiß reinfallen.

Wer immer Kinder hat oder politisch aktiv ist oder schon mal das Internetz gesehen hat: rüber gehen zu Sven und lesen, bitte. Ich reg mich sonst zu sehr auf. Und das ist voll ungesund.

8.2.12

Basiswissen Social Media im Schnelldurchlauf

Auch wenn ich das Wort Social Media nicht mehr mag, ist das Thema doch weiterhin eines der wichtigen in meinem Beruf. Denn digitale Strategie heißt heute auch immer, sich um die Plattformen Gedanken zu machen, die wir die letzten Jahre unter "Social Media" zusammen gefasst haben.

Workshops und Schulungen sind ein wichtiger Baustein nicht nur der Strategieprozesse sondern auch darüber hinaus. Und "wir" Leute, die sich wie ein Fisch im Netz Wasser auf all diesen Dingens bewegen, vergessen ja leicht, dass es viele, viele, viele, viele andere gibt, denen das nicht so geht.

Eine Basisschulung wird darum immer beides sein und die Teilnehmerinnen in beiden Rollen abholen: als Personen, die den einen oder anderen Service nutzen - und als Kommunikatorinnen, die im oder für das Unternehmen damit umgehen. Diesen Spagat versuche ich in der Regel zu umgehen (weil mein Körperumfang und mein Fitnessgrad Spagat sehr ulkig aussehen lassen, von den Schmerzen ganz abgesehen), indem ich einen Schwerpunkt darauf lege, dass die Teilnehmerinnen als Personen sich besser zurecht finden.

Neben meiner umfangreichen Basis-Prezi, die zwischen drei Stunden und drei Tagen Schulungen und Workshops hält, habe ich darum eine schlanke Präsentation gebastelt, die ohne Medien-Schnicknack wie Videos auskommt und mich nur bei dem unterstützt, was ich am liebsten mache: Unendlich schnell viel zu viel zu reden.

6.2.12

Billig betreute Kinder sterben

Und das wird nicht bei Lara-Mia und Chantal bleiben. (Falls jemand außerhalb Hamburgs nicht mitbekommen haben sollte, worum es geht: mal wieder ist ein Kind, das in öffentlicher Obhut war, gestorben.) Selbst habe ich mit der Industrie der öffentlichen Betreuung nichts zu tun. Aber in meinem Freundeskreis arbeiten einige in dieser Industrie. Oder in verwandten Bereichen wie Schulen und Amtsgerichten. Und ohne Zynismus muss ich sagen, dass mir die Überraschung und Empörung über den aktuellen Fall ein Kopfschütteln auslöst. Darum eher anekdotisch ein paar Kleinigkeiten zu dieser Diskussion.

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Als die Betreuung von Familien und von Kindern privatisiert wurde, ging es auch ums Geldsparen. So genannte freie Träger der Jugendhilfe sind für Kinder zuständig, die aus ihren Ursprungsfamilien raus müssen. Die (kleinen) Träger, die ich gut kenne, steigen bei den entsprechenden Ausschreibungen der Jugendämtern aus, wenn jemand anders mehr als 40 zu betreuende Kinder pro Vollzeitstelle anbietet. Die Aufträge gehen, so höre ich von Trägern, dann oft an Unternehmen, die 50 und mehr Kinder von einer vollen Stelle betreuen lassen. Und entsprechende Anbieter bekommen vom Jugendamt den Zuschlag, weil sie dann - logischerweise - rund 20-25% billiger sind als andere, die diesen Betreuungsschlüssel für nicht vertretbar halten.

Dass sich da jemand wundert, falls nicht jedes dieser Kinder in seiner Pflegefamilie oder -einrichtung sinnvoll und verantwortungsvoll betreut werden kann, wundert mich.

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Ich habe in den letzten zwei Wochen von mehreren (kleinen) privaten Trägern der Jugendhilfe gehört, dass sie schon seit Jahren keine Aufträge vom Jugendamt in Hamburg-Mitte annehmen, weil da ein heilloses Chaos herrsche und eine Zusammenarbeit mit diesem Amt und diesem Bezirk einfach nicht möglich sei. In der "Szene" ist - so wirkt es auf mich - niemand überrascht über die Dinge, die jetzt rauskommen im Bezirksamt Mitte.

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Die Zusammenarbeit von Lehrerinnen mit den Jugendämtern in Hamburg gestaltet sich offenbar in sehr vielen Fällen so, wie es sich jetzt bei Chantals Pflegefamilie herausstellt: Ein Hinweis aus der Schule wird vom Jugendamt abgebügelt oder freundlich entgegengenommen und nicht weiter verfolgt. Ein Fall ist mit persönlich bekannt, in dem eine Mutter vom Jugendamt darüber informiert wurde, dass die Lehrerin ihres Kindes sich ans Jugendamt gewandt hatte, weil sie eine Kindswohlgefährdung (so heißt das im Amtsjargon) vermutete und das Amt ohnehin die Familie betreut (u.a. aus diesem Grund). Als es daraufhin zu Gewalt durch die Mutter gegen die Lehrerin kam, plädierte das Jugendamt auf "nicht zuständig".

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"Beim Jugendamt in Billstedt" - das gehört zu Hamburg-Mitte - "musst du gar nicht erst nachfragen, da haben die für so was kein Geld mehr", sei die Standardantwort von Experten, höre ich, wenn jemand überlegt, dass ein Kind, das dort vom Jugendamt betreut oder unterstützt wird, eine weitere Hilfe braucht.

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Aus Gerichten höre ich, dass es keinen anderen Bereich der Verwaltung gebe, aus dem so überforderte und untermotivierte Mitarbeiterinnen vor Gericht auftauchen wie aus Jugendämtern. Und dass hier Mitte nur unwesentlich nach unten abweiche.

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Ob Herr Schreiber (politischer Verwaltungschef in Hamburg-Mitte) zurück getreten wird oder nicht, finde ich fast egal. Das wird nichts ändern an der Situation der Kinder. So lange die Betreuung von Kindern, die ihre Ursprungsfamilie verlassen müssen, so organisiert ist, wie es zurzeit ist, wird jeder neue Bezirkschef scheitern. Und werden weiter Kinder sterben. Das ist eklig und traurig und ein Skandal. Aber solange Betreuung unter Kostengesichtspunkten optimiert wird, solange dieses Thema eine Posteriorität ist, wird sich durch den Austausch von Personen nichts ändern.