31.1.12

Es ist Zeit, Netzpolitik abzuschaffen

Gefährliche Komikerinnen wie #Heveling und mäandernde Politbewegungen wie die Piratinnen haben eines gemeinsam: Sie nehmen "die Netzpolitik" zu wichtig.

(Ja ich weiß, ich kämpfe auch immer noch für eine intelligente Netzpolitik in meiner eigenen Partei, den Grünen. Das ist ein Widerspruch zu dem, was ich jetzt gleich sagen werde. Diesen Widerspruch sehe ich, kann ich auch nicht wirklich auflösen, weil beides stimmt. Ich neige aber mehr und mehr dazu, dass ich "Netzpolitik" als Disziplin für Teil des Problems halte und nicht für einen Teil der Lösung.)

Wer Netzpolitik isoliert betrachtet, läuft immer wieder in das Problem, "das Netz" ebenfalls isoliert zu betrachten. Faktisch wird damit der disruptive Charakter dessen, was durch "das Netz" in den letzten 20 Jahren verändert wurde und sich weiter verändert, kleiner gemacht, eben vom Leben, von Kultur, Bildung, Wirtschaft und so weiter abgekoppelt.

Mein Verdacht ist mehr und mehr, dass es "uns" Netzaktivistinnen so schlecht gelingt, andere Politikbereiche für die (tollen und weniger tollen, hilfreichen und verunsichernden) Veränderungen zu sensibilisieren, weil wir über Netzpolitik reden. Und nicht über Demokratie (ok, manche Piratinnen tun das). Wir verlieren in der Kulturdebatte (rund um Urheberinnenrechte etc). Wir gewinnen keine Priorisierung in der Infrastrukturpolitik.

Warum ist das Internetz genauso wichtig wie das Stromnetz und das Straßennetz? Wieso sind Quellenkritik und Suchstrategie genauso wichtig wie die Analyse von Versformen und die Abgrenzung von Literaturepochen?

"Wir Netzpolitikerinnen" haben darauf im Prinzip Antworten. Aber "wir" reiben uns auf in medienpolitischen Diskussionen oder besaufen uns an einer gefühlten Bedeutung im netzpolitischen Resonanzraum. Die Beheimatung der "Netzpolitik" als Teildisziplin in der Medienpolitik ist ihr Webfehler (was für ein Kalauer).

Wenn es uns ernst ist damit, dass das Netz als Teil unseres Lebens und als etwas, das wir Heimat nennen, einer ganz besonderen Aufmerksamkeit bedarf, dann müssen wir dahin, wo es weh tut und wo wie Entscheidungen getroffen oder vorbereitet werden, die uns betreffen. Dann müssen wir die wirtschaftspolitischen Sprecherinnen unserer Parteien werden. Dann müssen wir die Unternehmensverbände auf unsere Seite ziehen, die Gewerkschaften, die Betriebsrätinnen, die oft noch die Bremserinnen der Entwicklung in den Unternehmen sind.

Wer sich vor allem über die Netzpolitik definiert, ist für die anderen eben nur Gedöns. Und wer das aus dieser meilenweit vorausgehenden Perspektive der DigiGes oder D64 tut, muss sich nicht wundern, wenn die "richtigen" Politikerinnen sie nicht ernst nehmen. Wer (unbeholfenen) Fachpolitikerinnen das Heimatrecht im Netz verwehrt oder sie mit Spott bedeckt, muss sich nicht wundern, wenn sie dann Kasper wie Heveling bekommt, also Netz-Fachpolitikerinnen, die so viel Ahnung vom Netz als Heimat und Teil des Lebens haben wie viele Netzpolitikerinnen von Infrastrukturen oder dem Betriebsverfassungsrecht.

Wenn Heveling jetzt was vom Krieg erzählt, dann ist das ein guter Anlass, zuzugeben, dass der klassische Weg der Netzpolitik gescheitert ist. Denn der Experte Heveling ist das Ergebnis dieser Politik. Ist aber am Ende nicht schlimm, denn überall kommen die Fachressorts aus dem Quark, ohne dass "wir" sie beackern.



P.S.: Heveling ist kein Opfer eines Mobs aus Handelsblatt und Netzdings. Er ist der ranghöchste Netzpolitiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Er ist qua Amt Experte für Netzpolitik. Er weiß genau, was er tut, er ist die (konservative) Quintessenz der netzpolitischen Diskussion der letzten Jahre. Und hat darum jeden Spott verdient, den er bekommen kann.

27.1.12

Ich mag das #tgif Mem gar nicht

Ja, ich freue mich auf's Wochenende. Vor allem, weil ich einen netten Bodenarbeitskurs mit meinem Pferd machen werde. Und ja, ich hab auch schon thank god it's Friday geseufzt. Bestimmt auch online verkürzt zu #tgif.

Aber trotzdem verstehe ich das irgendwie nicht. Was ist an eurem Job so schlimm, dass ihr freitags um 8 Uhr morgens schon wohlig seufzend das Wochenende anruft? Ich glaube, ich würde dann versuchen, etwas an meinem Leben zu ändern.

Mein Großonkel und seine drei Töchter waren die - heute würde man wohl sagen - Testimonials der SPD-Kampagne "Am Samstag gehört Vati mir". Toll, dass sie damit erfolgreich waren damals, bevor die Seufzerinnen geboren waren.

Vielleicht bin ich in einer besonderen Situation, ich weiß es nicht. Mir macht mein Beruf und auch mein Job Spaß. Und mein Wochenende auch, an dem ich mehr von meiner Familie und unserer Pferdeherde sehe. Obwohl es so viel mehr auch nicht ist, weil sie alle auch dann ihre Wege gehen. Wie das Leben so ist.

Dass das Leben aus beidem besteht, finde ich gut. Ora et labora. Oder in so einem ätzenden Elternspruch: wer feiert, kann auch arbeiten. Ich arbeite nicht, um zu leben. Sondern die Arbeit ist Teil meines Lebens. Kein kleiner. Manchmal habe ich den Verdacht, dass das subjektive Stressempfinden sich umgekehrt proportional dazu verhält, wie sehr ich begreife, dass Arbeit nicht nur die lästige Pflicht ist, um mir mein Leben zu leisten - sondern zu einem gelingenden Leben positiv dazu gehört.

Aber vielleicht kommt da auch nur der orthodoxe Lutheraner in mir durch.

24.1.12

Rund um die Uhr online

Ich rede viel mit anderen Eltern über dieses Onlinedings. Gebe auch hin und wieder ehrenamtliche Fortbildungen für Eltern unter dem Motto "Was machen unsere Kinder eigentlich da im Internet?" Und ich mache mir immer wieder und immer neu Gedanken darüber, wie ich eigentlich meine Kinder da begleite und begleiten will. Zumal es auch Thema zu Hause ist. Zwischen meiner Frau und mir. Aber auch zwischen uns und den (teilweise ja schon jugendlichen) Kindern, mit denen es immer wieder auch ausgehandelt werden muss.

Weil ich immer wieder von anderen Eltern gefragt werde, wie wir es machen, was sozusagen unsere Systemarchitektur ist, schreibe ich den aktuellen Stand hier mal auf. Ich versuche, eine Balance zu finden zwischen Freiheit und Regeln, zwischen Selbstverantwortung der Kinder und Grenzen, die wir ziehen (müssen und wollen). Ja, ich weiß, dass meine Kinder es nur so mittelwitzig finden, dass sie wahrscheinlich weniger "dürfen" als andere, weil ich in der Lage bin, Regeln technisch zu setzen und eben nicht nur laissez-faire mache. Interessant finde ich immer, wenn ich mal Eltern fortbilde, dass nahezu alle zu Hause ein WLAN haben, bei all diesen Familien die Kinder Zugang zu diesem WLAN haben - und nahezu niemand weiß, was die dann online machen und wann.
I. Für die Jugendlichen

Die beiden Großen sind Jugendliche, nutzen also "das Internet" schon lange und intensiv. Spielen, Chatten, Telefonieren, Mail (ja auch noch), TV, teilweise Facebook (einer hat sich wieder abgemeldet da) - das sind typische Tätigkeiten. Hier fahren wir eine Mischung aus technischer Beschränkung und Selbstverpflichtungen.

Ihre Laptops sind mit der in Windows eingebauten "Kindersicherung" ausgestattet, die FSK-Grenzen bei Spielen enthält. Den Jungs steht ein Zeitkorridor zur Verfügung, in dem sie den Computer nutzen können: morgens von 6 Uhr bis 8 Uhr, und dann von 14 Uhr bis 22 Uhr (am Wochenende bis 24 Uhr). Verabredet haben wir, dass sie die Zeit, die sie mit MMORG (Onlinerollenspiele) verbringen, begrenzen, das regeln sie weitgehend selbst. Außerhalb dieser Zeiten können sie das WLAN mit ihren iPhones aufrufen, um Facebook zu nutzen, Skype oder was immer sie für Chat und Co brauchen. Denn mit ihren Freundinnen und Freunden sollen sie auch außerhalb der Korridore reden können.

Das WLAN selbst schränken wir nicht ein, filtern auch das Internet nicht vor.

II. Für den Zehnjährigen

Tertius hat auf dem Computer in seinem Zimmer keinen Internetzugang, er nutzt ihn für sein Schachprogramm oder wenn er mal was schreiben muss oder will. Die ins Applebetriebssystem eingebaute Kindersicherung regelt hier die Korridore und die Menge der Computerzeit. Auf einem alten iPhone, das er als iPod nutzt, hat er Zugang zum WLAN, so dass er vor allem YouTube nutzen kann und hin und wieder neue Apps runterladen.

Für Onlinerecherchen nutzt er eines der anderen Laptops, in der Regel eines der Eltern. Wir sind der Meinung, dass ein Zehnjähriger nicht zwingend unbeaufsichtigtes Internet braucht, insbesondere, wenn er nicht aktiv danach fragt. Er liest und spielt und hört viel. Und nutzt dazu andere Medienträger oder gar keine Medien.

III. Für die Sechsjährige

Quarta nutzt im Grunde keinen Computer, hin und wieder spielt sie auf dem iPod ihres Bruders oder lässt sich von ihm etwas auf YouTube zeigen. Wenn sie mal die Bibi-Blocksberg-Seite aufrufen will oder die Lern- und Arbeitsprogramme ihrer Deutsch- und Mathematerialien nutzen will, kann sie an eines der Laptops der Eltern.

Und sonst? Unsere Kinder erleben, dass wir im Grunde jederzeit online sind oder sein können, sie haben direkten Zugang zu ihren Großeltern und (sehr viel älteren) Cousins via Skype und Facebook. Sie erleben, dass wir mal eben googlen oder bei Wikipedia nachgucken, wenn wir etwas wissen wollen, wir führen sie an bezahlte Musik und Filme im Web heran (in unserem Fall über iTunes). Und reden intensiv über Quellenkritik. Und googlen hin und wieder mal den Volltext ihrer Schulreferate, um nachzugucken, wo sie ihn abgeschrieben haben. Oder so.

Die Herausforderung bleibt, immer wieder die Balance zu finden zwischen Selbstbestimmung und Regeln, zwischen Bewusstsein für das aktuelle Rechtssystem und Privatsphäre und den eigenen Bedürfnissen. Darum begleite ich meine Kinder durch den Anmeldeprozess bei Netzwerken und erklären ihnen, was welche Haken bedeuten - und lasse ihnen die Freiheit, da zu sein oder auch nicht. Zur Not bin ich 80% des Tages ohnehin nur einen Klick von ihnen entfernt, so dass sie mich um Hilfe bitten können oder nachfragen.

Wie macht ihr das?

Update
Gut, dass Uwe mich daran erinnert, wie er es - ganz anders - löst. Er schrob neulich mal darüber.

18.1.12

Rettet das Web, bevor Apps es töten

Passend zum #SOPA-Aktionstag und zum gerade heute aktuellen Thema Freiheit hier die letzte Folge der Blogposts rund um meine sechs Ansagen für 2012. Es ist vielleicht die politischste, "ideologischste" These dieses Jahr. Aber eine, an der sich die Haltung zum Web entscheidet und in der es mehr als in allen anderen um die Zukunft geht. Alle sechs Teile und die Thesen selbst habe ich mit dem gleichen Stichwort versehen, so dass ihr sie hier zusammengefasst findet.
Das Web ist tot? Apps sind die Zukunft? Das will ich doch nicht hoffen. Es wäre eine schreckliche Zukunft, in der ich nicht leben, lesen, reden und arbeiten wollte. Apps (ob auf dem iPhone, anderen Smartphones oder auf Facebook) sind praktisch. Wenn ich eine klar umrissene Aufgabe für sie habe. Fahrpläne. Das Ausleihen eines Fahrrades. Die Uhrzeit in Tokio. Ein Einkauf in meinem Stammladen. Aber Apps haben nichts zu tun mit dem Internet. Weder mit dem Inter noch mit dem Net im Internet.



AOL (die Älteren werden sich vielleicht noch an den Namen erinnern) starb irgendwann unter anderem daran, dass es ein Silo war, das seine Nutzer einsperrte. Super praktisch, denn ich konnte alles machen, was AOL dachte, dass ich es will: Shoppen, Mailen, Chatten, Bankgeschäfte, Nachrichten lesen und so weiter. Nur rauslinken konnte ich nicht.

Das Internet lebt von Hyperlinks. Davon, dass hinter jedem Satz, jedem Stichwort, jedem Zitat potenziell eine ganze weitere Geschichte liegt. Nicht umsonst fahren die Onlinemedien am besten, auch wirtschaftlich, die das begriffen haben. Die auch auf Seiten verlinken, die nicht auf ihrem eigenen Server liegen. Die kein Silo mehr sind, sondern verstehen, dass jede, die ich wegschicke, umso lieber wieder zu mir zurück kommt. So wie ich lieber auf eine Party im Café gehe als auf einem Boot. Ich muss die Gastgeberinnen schon sehr gut kennen, um mich auf einem Boot einsperren zu lassen, so dass ich die Party nur dann verlassen kann, wenn sie entscheiden, mal anzulegen.

Um Nachrichten zu lesen oder Websites aufzurufen, brauchen wir keine App. Das geht genauso gut über eine gute Website, über eine, die auch auf dem kleinen Display meines mobilen Internetzugangsgerätes gut aussieht. Klar, wenn ich eine Website betreibe, die dem Anachronismus huldigt, auf 1024 Pixel Breite fest eingestellt zu sein, habe ich ein Problem, dann denke ich vielleicht über eine App nach, für Facebook oder für das iPhone. Aber wir reden hier ja über die Zukunft. Und nicht über das Jahr 2002.

Einer der großen alten Denker rund um das Web und Erfinder so kluger Dinge wie RSS (remember, those where the days) Dave Winer hat im Dezember sehr gut und schlank zusammen gefasst, warum Apps nicht die Zukunft sein können, egal, was die so genannten Technologie-Leitmedien schreiben:
The great thing about the web is linking. I don't care how ugly it looks and how pretty your app is, if I can't link in and out of your world, it's not even close to a replacement for the web. It would be as silly as saying that you don't need oceans because you have a bathtub. How nice your bathtub is. Try building a continent around it if you want to get my point.
Modernes Webdesign und moderne Technik hinter Websites ermöglichen uns, wunderbare Dinge zu bauen, die toll im Browser aussehen, ganz anders und trotzdem sehr gut auf dem kleinen Touchscreen in meiner Hand, und die großartig als Tab unserer Facebook-Seite funktionieren, wenn wir sie als iframe einbauen.

Im Grunde ist der App-Boom ja ohnehin absurd. Erst sagen sie, das Web werde omnipräsent und mobil und sozusagen das immer verfügbare Nebenbeimedium. Und dann schaffen sie das Netz und die Vernetzung ab und reduzieren das Thema auf Datenübertragung und Interaktion auf Displays?

Das Besondere am Internet ist sein eingebauter Hang zur Gleichheit aller Inhalte. Aus denen sich dann - nicht als Demokratie, aber im Kern schon als Meritokratie - die relevanten und besseren Inhalte herausschälen können. Hyperlinks untergraben die Autorität. Auch die von Apple. Oder des Spiegel. Oder der Marken. Apps dagegen sind autoritär. Denn sie entscheiden für ihre Nutzerinnen, was diese sehen, machen, erleben dürfen.

Kurzfristig mag es verlockend sein, als Unternehmen, als Marke, als Service auf dieses autoritäre Modell zu setzen, selbst wenn ich es nur als von Apple oder Facebook geliehene Autorität umsetzen kann. Aber schon 2012 wird der Gegentrend einsetzen und werden die Nachteile überwiegen. Denn hinter das verlinkte und verlinkende Internet kommen wir nicht mehr zurück. Und das ist auch gut so.

16.1.12

Sag mir, wer du bist

Folge fünf der Blogposts rund um meine sechs Ansagen für 2012. Damit wir langsam mal zum Ende kommen. Alle Teile habe ich mit dem gleichen Stichwort versehen, so dass ihr sie hier zusammengefasst findet.
Daten sind ja nicht nur wichtig. Sie sind das Fundament, auf dem nahezu alles beruht, was man beruflich online machen kann. Zumal Onlinekommunikation grundsätzlich den großen Vorteil hat, dass alles messbar ist, dass nahezu nichts in einer Blackbox bleibt oder zumindest bleiben muss. Der Albtraum der Datenschützerinnen ist der Traum der Kommunikation.

In Blogs, auf Facebook, in Frageportalen und so weiter haben viele Kommunikatorinnen zunächst vor allem auf die Dialoge geschaut. Das war auch eine Zeit lang richtig so - wir mussten lernen, Menschen zu verstehen, die da aktiv waren, mussten damit experimentieren, worauf sie reagieren, was sie von uns wollen, was sie nicht wollen, wie diese Art der Dialoge funktioniert.

Dann aber setzte eine Art Verselbstständigung ein. Dialog wurde als Ziel definiert. Unterhaltungen bekamen einen Wert an sich. Echte Kommunikationsziele gerieten aus dem Fokus, das Experiment wurde zu einem Dauerprovisorium. Marken und Unternehmen lernten, mit den einzelnen Menschen zu reden, verstanden, wenn es gut lief, tatsächlich, was sie meinten und wollen, konnten reagieren. Nur wussten die wenigsten, mit wem sie da wirklich sprachen, wie diese Gespräche mit dem eigentlichen Geschäft des Unternehmens zusammen hängen - und was diese Menschen an anderen Stellen tun, wenn sie mit dem Unternehmen zu tun haben.

Dialoge online zu führen, war oft an einer anderen Stelle im Unternehmen angesiedelt als das Führen einer Kundinnendatenbank. Oder der Datenbank aus dem Kundinnendialog. Und das führt dann zu so aparten Blüten, dass ich vom Helpcenter eines Unternehmens angerufen werde - und die Mitarbeiterin das Gespräch mit dem Satz eröffnet, ich hätte mich ja an die Pressestelle gewandt mit meinem Problem. Ich überlege kurz. Und muss lächeln: Ja, ich hatte entnervt getwittert, dass ich etwas nicht verstehe - und dabei den Firmennamen genannt.

Was also gut klappte, war das Twittermonitoring. Und mein Name wurde in der Datenbank gefunden. Was es damit aber auf sich haben könnte, eher nicht. Vielleicht ist es Jammern auf hohem Niveau - denn so manches Unternehmen wäre sicher froh, wenn es schon so weit wäre, dass es diesen ersten Schritt machen kann. Aber wäre es nicht großartig, wenn in meiner “Kundenakte” diese Beschwerde direkt sichtbar wäre? Wenn die Mitarbeiterin im Helpcenter wüsste, dass ich einige Leute habe, die mir auf Twitter folgen? Dass darunter viele Journalistinnen sind und einige andere Multiplikatorinnen? Dass ich blogge?

All diese Dinge “weiß” oder sammelt jemand aus dem “Social-Media-Team” dieses Unternehmens (ca. einen halbe Planstelle in der Unternehmenskommunikation). Aber macht damit nicht wirklich etwas. Was auch? Ich bekomme trotzdem den gleichen Newsletter wie alle anderen Kundinnen. Dort wird auf die Facebook-Seite als neu hingewiesen, auf die ich vor sechs Monaten schon mal eine Frage gepostet hatte. Als ich kündige und zur Konkurrenz wechsele, nimmt nur der Onlinevertrieb zu mir Kontakt auf, per Standard-E-Mail.

Das Interessante ist ja, dass diese Geschichte so tatsächlich passiert ist. Und dass das Unternehmen unter klassischen Kriterien gute Noten für sein Engagement in den so genannten “Social Media” bekommt. Die Frage ist, ob es ihm zukünftig gelingen wird, das Wissen und die Daten, die es in all den Dialogen und Monitoringanstrengungen gesammelt hat, mit den anderen Daten zusammen zu führen, die es über seine Kundinnen oder solche, die es werden könnten/wollen, hat.

Wichtiger als jeder Dialog und jedes Bespaßen von Menschen auf Facebook oder Twitter scheint mir zu sein, das Wissen, das ich aus dieser Aktivität ziehe, systematisch einzusetzen. Die ersten Versuche haben wir 2011 bereits gesehen: Von Payback oder Lufthansa beispielsweise, die auf Facebook Aktionen gemacht haben, die als wichtigstes Ziel hatten, Facebook-Accounts mit Kundennummern zusammenzuführen. Denn damit werden die Fans erst wertvoll für die Kommunikation. Nicht durch ihre Menge oder die Intensität ihrer Interaktion (die brauche ich nur, um für andere sichtbar zu sein, im Grunde aber ist sie, mal etwas zynisch gesprochen, der Kollateralschaden des Facebook-Programms) - sondern dadurch, dass ich weiß, welcher Datenbankeintrag in meinem CRM-System zu welchem Facebook-Account (Fan) gehört:

Wenn ich auf eine Frage, die jemand bei Facebook stellt, direkt richtig anworten kann (am Telefon, per Mail oder Brief). Wenn ich bei einem Anruf im Helpcenter sofort weiß, dass diese Person 372 friends auf Facebook, ein Blog und einen sehr aktiven Twitter-Kanal hat. Wenn ich meine Kundinnen zusätzlich zu Umsatz und Life-Time-Value auch nach nach ihrer potenziellen Multiplikationsleistung segmentieren kann.

Daten aus dem so genannten “Social Graph” mit klassischen linearen Daten zusammen zu führen, ist alles andere als trivial. Viele dieser Informationen passen nicht in die CRM-Systematik. Aus dieser Ecke wird sicher sehr bald eines der spannenderen Start-Ups kommen. Aber dass wir diese Daten miteinander verschränken müssen, wird immer klarer. Denn nur so kann auf Dauer ein teures Bespaßen meiner Zielgruppen gerechtfertigt werden. Allein positiver Buzz ist zu kurzfristig und zu wenig relevant.

Und überhaupt: Daten sind sowieso viel sexier als Gespräche.

13.1.12

Schulinspektion in Meiendorf

In Hamburg finden seit einiger Zeit Schulinspektionen statt. Dazu kommt ein Inspektionsteam in die Schulen. Zusätzlich werden Lehrerinnen und Eltern auch online befragt, wobei die Beteiligung oft keine repräsentativen Schlüsse zulässt, so dass die Ergebnisse nicht in den Bericht eingehen (oder nicht gewichtet werden oder so was). Am Gymnasium Meiendorf, das Primus besucht und für Tertius eine der Schulen ist, die ab Sommer in Frage kommen, bin ich ja im Elternrat (so heißt in Hamburg das Elternmitwirkungssgremium auf Schulebene). Der Elternrat hat im November einstimmig die Schulleitung gebeten, mindestens die Bereiche "Bildung und Erziehung" des Inspektionsberichts 2011 auf der Homepage der Schule zu veröffentlichen. Mir ist keine Antwort der Schulleitung bekannt, sie hat aber vorher mehrfach gesagt, dass sie das ablehnt.

Morgen ist "Tag der offenen Schule" am Gymnasium Meiendorf. Es werden sich also Familien über die Schule informieren, die überlegen, ihre Kinder da hinzuschicken. Und da es im Stadtteil (wahrscheinlich angesichts der sehr durchwachsenen Ergebnisse der Inspektion, immerhin sind gleich viele Aspekte im Bereich Bildung und Erziehung als "eher schwach" wie als "eher stark" bewerten worden) bereits Gerüchte und andere Rohrpost über das Ergebnis der Inspektion gibt - und da es sicher auch für Nicht-Hamburgerinnen spannend ist, wie so ein Inspektionsbericht aussieht -, binde ich die Teile mal hier ein, die der Elternrat gerne veröffentlich haben wollte.

UPDATE 24.1.2012
Ich habe mich entschlossen, den Bericht zumindest vorübergehend hier runterzunehmen. Heute bekam ich ein Schreiben der Schulleiterin, in der sie mir mit der Begründung "Sie verstoßen damit gegen Datenschutzbestimmungen" rechtliche Schritte androht, sollte ich ihn auf haltungsturnen.de nicht "unverzüglich entfernen". Das tue ich hiermit.

Da es mir aber einzig darum geht, dass sich an der Schule etwas ändert, dass die nun objektiv festgestellte schlechte Unterrichtsqualität sich verbessert, da ich da immerhin ein Kind habe und privatempirisch bestätigen kann, was im Bericht steht, werde ich an dieser Stelle die Schulleiterin nicht unnötig provozieren, denn darum geht es mir nicht. Ggf. werde ich den Bericht wieder einbinden, wenn ich den juristischen Sachverhalt klären konnte. Bis dahin werde ich in den Gremien weiter daran mitarbeiten, dass die Schule sinnvolle und nach vorne blickende Reformen umsetzt. Entschuldigt bitte.

11.1.12

Es lebe das Internetz.

Folge vier der Blogposts rund um meine sechs Ansagen für 2012. Damit es nicht langweilig wird. Mir zumindest nicht. Der erste Teil ging um den privacy divide und der zweite um Zielgruppen und dann hab ich ja gestern grad was zu Social Commerce fabriziert.
Selbstverständlich ist Social Media wichtig. Und selbstverständlich wird es nicht mehr weg gehen, das haben inzwischen auch diejenigen verstanden, die selbst nichts davon nutzen, was wir Social Media nannten, oder es sogar gefährlich finden oder so. Und gerade darum werden wir Kommunikatorinnen nicht mehr davon reden.

Wichtigster Grund ist, dass die Zusammenfassung so unterschiedlicher Dinge wie Blogs, Foren, Twitter und Facebook (und noch etlicher wiederum sehr anderer mehr) unter dem Begriff “Social Media” zwar zunächst halbwegs hilfreich war, um anzuzeigen, dass es sich um Services und Plattformen handelt, mit und auf denen Nutzerinnen sozial interagieren. Aber eigentlich trotzdem nie passend. Zumal schon diese Erklärung, was denn Social Media sein könnte (so wie jede andere der dreihundert, die ich bisher kennen gelernt habe), die Schwäche zeigt - und warum wir tunlichst vermeiden sollten, das Wort über Gebühr zu benutzen. Denn an sich wären - etwas holzschnittartig formuliert - auch Partys oder Demonstrationen dann “Social Media”. Da lernen sich Leute niedrigschwellig kennen. Oder da verschaffen sie sich kollektiv Gehör.

Wie unbrauchbar für professionelle Kommunikation der Sammelbegriff “Social Media” ist, wird noch deutlicher, wenn einige der Plattformen heute bereits Mainstream sind (Facebook, YouTube) und im Laufe des Jahres rund die Hälfte der Erwachsenen in diesem Land sie nutzen - und andere in der Nische bleiben, spezielle Gruppen versammeln oder gar (was für Kommunikatorinnen ja immer besonders spannend ist) vor allem von Multiplikatorinnen genutzt werden. Sie haben quasi nichts gemeinsam, wenn wir etwas genauer hinsehen. Schon in den letzten Jahren war es im Grunde absurd, wenn Agenturen gebrieft wurden, sie sollen doch mal was mit Social Media vorschlagen. Denn am Ende hieß dies: “Macht mal was online, am besten eine Wollmilchsau”. Dann sagt das doch gleich!

Und “der oder die nutzt Social Media” ist als Beschreibung ungefähr so sinnvoll wie “die oder der sieht fern”. Aussagekraft gleich null. Ja, das ist nicht neu. Ja, das hat der immer sehr hellsichtige Markus Breuer schon damals, so um 2005 rum, in Bezug auf Bloggerinnen gesagt:
Der einzige Satz, der mit “die Blogger...” beginnt und dennoch wahr ist, geht weiter: “... schreiben ein Weblog”.
Aber darum ist es ja nicht falscher.

Was wir, wenn wir unseren Beruf ernst nehmen, machen, ist, dass wir uns angucken, ob die Menschen, denen wir zuhören, was erzählen oder mit denen wir reden wollen, besonders häufig in einem bestimmten Medium zu finden sind, besonders oft eine bestimmte Plattform oder einen Service nutzen - und unsere Kommunikationsprogramme daran orientieren. Nicht weil die zu dem gehören, was wir mal “Social Media” genannt haben, sondern weil es sinnvoll ist. Weil wir sie da erreichen. Weil sie sich da unterhalten.

Ich denke, dass es Profis sogar schadet, wenn sie von “Social Media” reden. Denn es macht einen gewaltigen Unterschied, ob ich Mikrozielgruppen anspreche und Blogger Relations mache oder Community Management oder ob ich Aktivierungen auf Facebook entwickele und umsetze. Kann ich alles aus einer Hand anbieten, ja. Aber eben so, wie ich auch Pressearbeit, interne Kommunikation und Corporate Publishing aus einer Hand anbieten kann. Es sind jeweils (technisch) andere Fähigkeiten gefordert, die sich nicht mal eben unter “die kann Social Media” zusammenfassen lassen. Denn die Generalistinnen “können” eben “mehr” als Social Media, die können Kommunikation. Und die Spezialistinnen “können” eben “weniger” als Social Media, die können ein, zwei dieser Spezialdinge, wenn sie darin exzellent sein wollen.

Mein Freund Nico Lumma hat schon im Frühsommer 2010 auf der next Conference gesagt, Social Media sei tot - und damit genau dieses gemeint: Dass wir lieber vom “Internet” reden sollten. Er hatte damals schon Recht, war nur mal wieder recht zeitig dran (das ist die PR-Formulierung für “zu früh”). Denn aus Marketinggründen brauchten wir den Begriff damals noch. Jetzt nicht mehr. Denn jede, mit der ich beruflich zu tun habe, weiß, dass wir was mit diesem Internetz machen müssen, wenn wir Kommunikation machen wollen. Fein. Das machen wir dann mal.

10.1.12

Wie Social Commerce jetzt endlich losgehen wird

Folge drei der Blogposts rund um meine sechs Ansagen für 2012. Denn Social Commerce kommt ja nun. Der erste Teil ging um den privacy divide und der zweite um Zielgruppen.
Von “Social Commerce” ist schon länger die Rede. Aber wenn damit nicht (und dann wäre es ja der falsche Name) ein Shop auf Facebook gemeint ist, sehen wir bisher sehr wenig (online), das anzeigen könnte, was denn dieses social am Commerce sein könnte. Es müsste ja etwas sein, das unsere (Online-) Beziehungen mit unserem Einkaufen verknüpft.

An sich ist “Social Commerce” (offline) ja völlig normal: Wenn ich mit meiner Frau oder meinen Kindern shoppen bin, dann ist das sehr social. Dann geben wir uns Tipps, entscheiden gemeinsam und reden über das, was wir uns ansehen. Das Besondere ist, dass wir dies synchron tun, also zur gleichen Zeit am gleichen Ort. Einige machen es auch am Telefon. Immerhin noch zeitlich synchron, wenn auch nicht mehr räumlich.

Online sah Social Commerce dann bisher meistens so aus, dass ich mir mit Freundinnen oder Kindern Links im Chat hin und her geschickt habe, hin und wieder auch per E-Mail, wenn jemand das noch nutzte. Oder dass ein Shop meine Aktivitäten auf Facebook postete und das dann Social Commerce nennt (was ich auch wiederum eher schräg finde, aber das ist noch einmal eine andere Geschichte).

Grundsätzlich sehe ich zwei Routen im Social Commerce für 2012:
  1. Die Verknüpfung meines so genannten Social Graph mit meinen Einkaufsaktivitäten (online und offline) - was vor allem dann ein Datenthema für die Anbieter von E-Commerce ist und eine Funktion im “Stream”, also meines Profils.
  2. Die Abbildung der Funktionen von “offline Social Commerce” mit Hilfe von Sozialen Netzwerken - was vor allem ein soziales und lebensweltliches Thema der Konsumentinnen ist.
Beide werden kommen. Beide könnten wir “Social Commerce” nennen. Aber für uns als Kommunikatorinnen deutlich spannender ist dabei sicher die zweite Route. Denn die Chance ist hier, das, was bisher synchron (beim Shoppen oder am Telefon) bestens funktionierte, online und asynchron “nachzubauen”. Die eigentliche Stärke sozialer Netzwerke ist ja genau, dass sie uns asynchron soziale Interaktion ermöglichen, die vorher nur synchron möglich war. Dies nun auf Commerce und Shopping zu übertragen, ist ein überfälliger und naheliegender Schritt.

Die ersten neuen Anwendungen dieser Form von Social Commerce sehe ich darum in diesem Jahr dort, wo Menschen ihre Freundinnen um Rat fragen werden, wenn sie shoppen. Wo sie Optionen überprüfen, Links teilen, Votings einholen, nach Ideen fragen. Sicher vor allem zuerst auf Facebook, aber dann auch mit Twitter oder einem Blogpost oder - ganz klassisch - mit einer E-Mail-Einladung.

Am Ende ist es ähnlich wie das, was KLM mit Social Seating probieren will: Etwas, das ich früher nur im “richtigen Leben”, in der Kohlenstoffwelt, mit einigen wenigen engeren Bekannten machen konnte (hier: wenn wir gemeinsam einchecken), wird ausgeweitet und davon abgekoppelt, dass ich mit meinen Freundinnen oder Bekannten zur gleichen Zeit oder am gleichen Ort eine Aktion durchführe.

E-Commerce “social” zu machen, ist insofern naheliegend. Denn damit schließt er endlich in einem weiteren Punkt zum Kohlenstoff-Shopping auf. Je mehr die Onlinezeit meiner Freundinnen wächst, desto schneller werde ich Feedback auf meine Fragen bekommen, desto eleganter wird sich eine solche Funktion in meinen Einkaufsprozess eingliedern. Nicht in Echtzeit (dies war, so denke ich, der “Fehler” der ersten Ideen rund um Social Commerce - dass sie eher so etwas wie Shared Browsing, also gleichzeitiges, synchrones Surfen und Einkaufen versuchten), denn das ist nicht nötig und im Übrigen ja überhaupt und grundsätzlich überbewertet. Aber in immer kürzer werdenden Zeitfenstern.

Soziale Interaktion über Onlineplattformen wird auch und nicht zuletzt so immer mehr in den Alltag von immer mehr Menschen einsickern. Die Unterscheidung von online und offline, die für viele von “uns”, die wir schon lange und schon intensiv in diesen Medien unterwegs sind, länger nicht mehr existiert, wird so für weitere Gruppen irrelevant. Social Commerce in dieser Form fügt sich so nahtlos in Entwicklungen ein, die wir auch anderswo beobachten - und treibt sie zugleich voran.

Und nein, es werden nicht nur Ebay (Kunde) und Amazon sein, die dieses einführen.

5.1.12

Generisches Maskulinum ist auch Kinderkakke (wie Postgender)

Zu Postgender hab ich neulich ja schon mal geschrieben, wieso das Kinderkakke ist. Das immer wieder (und beileibe nicht nur von Männern) behauptete so genannte "generische Maskulinum", also die irrige Vorstellung, Frauen seien "mitgemeint", wenn ein Plural im grammatikalischen Maskulinum gebildet wird, ist ebenso Kinderkakke. Und dazu kommt noch, dass es das nicht mal gibt.

Heute erst bin ich auf einen dazu sehr spannenden und verständlichen Artikel in Anatol Stefanowitschs Sprachlog gestoßen (via Facebook via Katja Husen), der noch einmal einige Studien zusammenfasst, die zeigen, wie sehr im Deutschen die Verwendung eines Genus Einfluss auf das hat, was wir in Wirklichkeit denken und mitdenken (und eben nicht mitmeinen). Vor allem räumt er sehr erhellend mit dem Vorurteil auf, geschlechtergerechte Sprache würde die Verständlichkeit von Texten negativ beeinflussen. Dies tut sie nur gefühlt, nicht aber objektiv - und auch nur bei Männern. Anatol schreibt:
Mit anderen Worten: Geschlechtergerechte Sprache hat keinen negativen Einfluss auf die Verständlichkeit und Lesbarkeit von Texten. Wohl aber hat sie einen Einfluss auf die Einbildung männlicher Leser.
Frauen natürlich ausgenommen | Sprachlog
Und solange es in meiner Umgebung Leute gibt, die das Märchen vom generischen Maskulinum aufrecht erhalten und weiter erzählen, werde ich wie in den letzten Jahren schon auch weiterhin im Blog und in Aufsätzen und Artikeln ein generisches Femininum verwenden. Punkt.

4.1.12

Zielgruppen sind das A und das O jeder Kommunikation

Folge zwei der Blogposts rund um meine sechs Ansagen für 2012. Diesmal zu dem Thema, bei dem mich am meisten überrascht hat, dass es so kritisches Echo fand - und in diesem Fall noch nicht mal vor allem wegen schwach ausgeprägter Fähigkeiten zum sinnentnehmenden Lesen, sondern wohl, weil es einige wirklich anders sehen. Der erste Teil ging um den privacy divide.
Es gehört zu den ebenso grotesken wie überflüssigen Missverständnissen der Ära einer vom Social Web inspirierten Kommunikation, sie käme ohne Zielgruppen aus. Unbestreitbar ist sicher, dass die klassischen Zielgruppendefinitionen entlang von Sinusmilieus oder Konsumvorlieben nicht mehr ausreichen - und vor allem nicht ausreichend scharf sind. Aber mit der Erkenntnis, dass sich Kommunikation in allen Disziplinen (und nicht mehr nur in der PR) weg vom Megafon und hin zu einem eher dialogischen Ansatz entwickelt hat, der davon geprägt ist, dass Menschen (Mitarbeiterinnen, Konsumentinnen oder wer auch immer) sich zu Wort melden, gemeinsam mit dieser Erkenntnis dann die Idee Zielgruppe wegzuwerfen, ist nicht nur fachlich Blödsinn sondern auch unprofessionell.

Mein Eindruck ist, dass das Missverständnis, Zielgruppen seien tot oder out oder was auch immer und wahlweise allein der einzelne Mensch oder jedwede Gruppe, die sich einmischt, stehe mit seinen oder ihren individuellen Anliegen im Fokus jeder Kommunikation, dass dieses Missverständnis vor allem aus einer späten und falschen Rezeption des so genannten Cluetrain Manifesto entstanden ist - und aus dem Überschwang und der Begeisterung für Blogs, Twitter und Co. Tragisch ist das vor allem deshalb, weil es nie die Intention des Cluetrain Manifesto war, Zielgruppen abzuschaffen. Und als wir damals, im März 2000, als die brand eins das Manifest nach Deutschland brachte, anfingen, in Mailinglisten (ach, die legendären Zeiten der brandeins-Mailingliste selig, wisst ihr noch, die ihr dabei gewesen seid damals?) und Think Tanks über Kommunikation nachzudenken und sie entlang der Grundideen von Cluetrain neu zu justieren, stand für uns in der ersten Generation der (nennen wir sie mal) Neuen Kommunikation immer fest, dass Zielgruppen das A und O bleiben, dass wir nur anders und neu darüber reden müssen, sie neu fassen und präziser definieren.

Jede Kommunikation, die über den individuellen Kundendialog hinausgeht, muss sich entlang einiger Parameter ausrichten, wenn sie strategisch ist und Rechenschaft über die Verwendung von Ressourcen (Personal und Geld vor allem) ablegen will. Diese Parameter sind sehr verschieden - aber in der Regel finden sich, in unterschiedlicher Formulierung - doch zwei Aspekte immer darin wieder: Eine Orientierung an Zielen (oder auf Ziele hin). Und eine Abgrenzung, mit wem kommuniziert wird und mit wem nicht. Dabei bleibe ich zunächst bei dem sperrigen Wort “kommuniziert”, weil es alles meinen kann (aber nicht muss) - vom Zuhören über das Senden bis hin zu Antwort oder gar Dialog.

Das Interessante ist ja, dass es fast egal ist, wo ich meinen kommunikativen Schwerpunkt setze. Ob beim Zuhören (wie ich es beispielsweise als wichtigste Konsequenz aus Cluetrain sehe, denn die wichtigste strategische Fähigkeit in der Kommunikation - die Antizipation - lässt sich nur über das intensive Zuhören einsetzen, siehe meinen inzwischen fast schon antiken Ansatz in meinem kleinen Büchlein über das Verkaufen und den Verkäufer), beim Senden (was immer ein wichtiger Bestandteil von Werbung sein wird) oder beim Dialog. Immer hilft mir eine Verständigung über die Zielgruppe einer Maßnahme, sie so zu gestalten, dass sie handhabbar bleibt und ein Mindestmaß an Effizienz hat. Ich muss nicht jeder zuhören, nicht jede erreichen und nicht auf jede antworten - aber für die Entscheidung, wem ich zuhöre, an wen ich sende und wem ich antworte, ist es notwendig, sich mit dem Team, der Kundin oder der Geschäftsführung zu verständigen, welche Ziele und Zielgruppen wir im Sinn haben.

Und weil ich Kommunikation noch nie für einen Selbstzweck gehalten habe sondern (vielleicht meinem eigenen Schwerpunkt Strategie geschuldet) für eine Funktion zur Erreichung des Unternehmensziels, ist die Bestimmung der Zielgruppen aus meiner Sicht Basis jeder professionellen Kommunikation. Dass viele von uns in den Kommunikationsberufen in den letzten ein, zwei Jahren die Zielgruppen etwas aus den Augen verloren haben und dass einige Kolleginnen in diesen Berufen sie sogar heute noch für überwunden halten oder ihre zentrale Bedeutung leugnen, ist ein Alarmsignal. Meiner Erfahrung nach erkennt man Profis in unseren Berufen daran, dass sie sich vor Maßnahmen die Rahmenbedingungen ansehen - zu denen die Zielgruppenbestimmung gehört - und auch während einer Maßnahme immer wieder überprüfen, ob die Rahmenbedingungen sich geändert haben oder ändern, wir also auch unsere Maßnahmen anpassen müssen.

In den letzten Jahren haben ich selbst nicht oft von Zielgruppen gesprochen, weil ich es zum einen selbstverständlich fand, dass sie im Mittelpunkt stehen - und weil es zum anderen eine Zeit lang sinnvoll schien, sich von den eher unbeholfenen Versuchen abzugrenzen, die klassischen Zielgruppendefinitionen in die komplexere Mediengesellschaft (also, ich wiederhole mich, eine Gesellschaft, in der medial vermittelte Inhalte für die meisten Menschen sowohl produzierend als auch konsumierend zugänglich sind) ohne große Veränderungen hinüberzuretten.

Heute spreche ich wieder offensiver von Zielgruppen, weil ich erlebe, dass sie allzu sehr aus den Augen verloren werden - beispielsweise bei vielen Programmen auf Facebook, beispielsweise, wenn Werbung vor allem unreflektiert in TV denkt, beispielsweise, wenn PR-Erfolg in Clippings gemessen wird.

Und noch ein weiterer Grund spricht dafür, Zielgruppen wieder selbstbewusst in de Fokus zu nehmen: Das Filterproblem. In aller Kürze ist es das Problem, das vielen Menschen in meinem Alter und darüber begegnet, die überfordert von der Fülle an zugänglichen Informationen sind (nenne ich auch gerne “Schirrmacher-Syndrom”), weil ihre erlernten Filter nicht mehr taugen, sie aber noch keine neuen gefunden haben.

Was für uns als normale Medienutzerinnen gilt, gilt auch für uns als professionelle Kommunikatoren: Ich kann und werde auswählen, filtern müssen. Beispielsweise ist nicht jeder Aufschrei von radikalen Tierschützerinnen wie Peta oder anderen für mich relevant, egal wie laut er ist. Wenn ich meine Zielgruppen kenne, werde ich besser filtern können. Was übrigens keine bloße Theorie ist, sondern nicht nur von mir täglich erprobt wird.