29.10.11

Warum Postgender Kinderkakke ist

Und warum ich weiter für die Quote in ihrer strengen Auslegung bin.

Ich bin in den 80ern aufgewachsen mit einer Mutter, die theoretische Feministin war. Danach habe ich viel über Entfremdung gearbeitet und feministische Theologie studiert. Obwohl ich ein nahezu traditionelles Familienmodell lebe, bin ich bis heute Feminist. Und witzigerweise spricht mich fast nie jemand darauf an, dass ich konsequent die weibliche Form benutze, wenn Frauen und Männer gemeint sind. Und übrigens nie das Majuskel-i.

Und mehr und mehr radikalisiere ich mich wieder. Heute wäre ich von der Landesmitgliederversammlung der Grünen gegangen, wenn sich im Frauenrat die durchgesetzt hätten, die die streng quotierte Redeliste aussetzen wollten.

(Streng quotiert heißt bei uns, dass nur so viele Männer reden dürfen wie Frauen. Dass also Männerbeiträge entfallen, wenn keine Frau sprechen will.)

Das Problem ist: die quotierte Liste funktioniert nicht, weil um den Faktor 5 (meine Schätzung) mehr Männer als Frauen reden wollen. Ich stimme also denen zu, die die Dysfunktion der Quote kritisieren.

Nur ist meine Konsequenz eine andere: Ich denke, wir müssen die Politikrituale überdenken und nicht die Quote. Wenn sich Frauen quasi nicht mehr an ihnen beteiligen, sollten wir sie (die Rituale, nicht die Frauen) abschaffen.

Willkürliche, eratische Redebeiträge vom Podium sind dann vielleicht nicht mehr die Form für zeitgemäße Parteitage. Vielleicht sollten wir Kandidatinnenbefragungen als Speeddating machen, in Kleingruppen und mit rotierenden Kandidatinnen. Vielleicht sollten wir Open Spaces ausprobieren. Oder oder oder.

Aber aus dem mangelnden Interesse von Frauen an unseren Parteireden zu schließen, die Quote aufzuweichen, wird weder den Zielen noch dem aktuellen Problem gerecht.

Und wir mitteilungsbedürftigen Männer können eben nur durch die strikte Quote gezwungen werden, diese Änderungen mit voran zu treiben. Denn sonst hungern uns die Frauen einfach aus. Sozusagen die Logorrhoe-Therapie analog zum Geburtsstreik.

Frauen, lasst euch nicht darauf ein, die Quote aufzuweichen. Wir Jungs brauchen nicht wirklich unsere überkommenden Rituale. Und Inhalte müssen ja nicht per ausgeloster Redeliste vom Podium erklärt werden, mit Worten, die wir vorher bereits online von uns gegeben haben.

20.10.11

Kulturfortschritt

Nur auf die Schnelle (sozusagen prä-Twitter-Retroblogging) ein schönes Zitat aus Olaf Kolbrücks Interview mit David Weinberger. Er antwortet auf die Kritik der Kritiker, wir würden mehr und mehr unser Gedächtnis ins Netz auslagern:
Menschen haben immer schon Wissen und Fähigkeiten des Bewusstseins ausgelagert. Schreiben ist eine Form der Auslagerung unseres Gedächtnisses. Auslagerung ist also Teil des menschlichen Fortschritts. Es gehört zu unserer Fähigkeit als Spezies, dass wir Werkzeuge nutzen. Jetzt haben wir dieses bemerkenswerte Werkzeug, das uns erlaubt, noch mehr zu wissen. Ich kann mir schwerlich einen negativen Aspekt eines gemeinschaftlich gebauten Archivs für Informationen, Ideen und Gespräche vorstellen, das noch dazu jederzeit von überall verfügbar ist. Wenn wir mit unseren Werkzeugen denken, dann ist das ein evolutionärer Schritt.
Take this, Kulturpessimisten.

19.10.11

Ich kandidiere nicht mehr

Vor drei Wochen habe ich angekündigt, dass ich Landesvorsitzender der Grünen in Hamburg werden will. Heute habe ich entschieden, dass ich mich nicht zur Wahl stelle für dieses Amt. Um - was in halböffentlichen Diskussionen der eine oder die andere vermutet hat - Legendenbildung vorzubeugen, habe ich die drei Wochen genutzt, um meine Kandidatur zu diskutieren und abzuklopfen und die Rahmenbedingungen, die ich genannt habe, auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen. Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich jetzt, in diesem Moment, das Amt nicht so zu einem Erfolg führen kann, wie ich es wollte. Das tut mir für die vielen Leid, die mir persönlich oder öffentlich ihre Unterstützung gegeben haben, aber ich halte es für besser, jetzt die Kandidatur abzusagen als später.

Vor allem zwei Aspekte sind dabei ausschlaggebend, die beide mehr oder weniger damit zusammen hängen, wie ich das Amt gerne geführt hätte: sehr asynchron, mit wenig fremdbestimmter Offline-Zeit, sehr partizipativ und mit einer größtmöglichen Offenheit und Öffentlichkeit - wer mich etwas kennt, hat wahrscheinlich eine grobe Vorstellung, was ich meine. Dafür sehe ich dann keine Chance, wenn es fair zugehen soll (auch für die anderen und vor allem für die Mitarbeiterinnen der Partei) und auch mich nicht zerreißen oder meine Familie und mein Beruf (die beiden Prioritäten #1 und #2 und beide mehr oder weniger deutlich vor der Politik in meiner Liste).

Zum einen habe ich mich überzeugen lassen, dass das mir maximal mögliche Zeitbudget so weit entfernt ist von dem, wie es zurzeit üblich ist für dieses Amt und vergleichbare Ämter, dass die Veränderungen, die nötig wären, um es so zu machen, wie ich es mir vorgestellt habe, größer wären als ich annahm - und mehr Menschen beträfen. Ich habe, das gebe ich zu, unterschätzt, dass meine Zeitansage auch von anderen Vorstandsmitgliedern recht radikale Änderungen verlangen. Zwar hätten die das ja gewusst, wenn sie sich zur Wahl stellen, weil erst der Vorsitzende und dann die anderen gewählt werden am 29.10. , aber es wäre eigentlich genau die Fremdbestimmung, die ich für mich ablehne, die ich ihnen aufzwänge. Das ist tatsächlich nicht fair.

Um es klar zu sagen: Ich halte es für machbar und werfe niemandem vor, dass sie es nicht für machbar hält. Ich gebe auch nicht "dem System" oder "den Umständen" die Schuld, wenn jemand in dieser Kategorie denken will. Sondern ich habe ein maximales Zeitbudget, das schon mit den vier Stunden, die ich annahm, massiv an die Grenze ginge.

Zum anderen hat die mehr oder weniger Nicht-Diskussion des von mir mitinitiierten und unterstützten (Achtung, Link auf pdf) Demokratie-Antrags für den Parteitag in der Bürgerschaftsfraktion und die Reaktionen einiger Abgeordneter darauf mir gezeigt, dass wir - jedenfalls aus meiner Sicht und explizit ohne, dass ich das scheuen oder tragisch finden täte - auf einen Konflikt mit der Fraktion zulaufen könnten, dass jedenfalls mindestens die Zusammenarbeit zwischen Landesvorstand und Fraktion nicht so geschmeidig und konfliktfrei sein wird wie bisher. Dass auf jeden Fall die strategische und politische Neuausrichtung der Grünen in Hamburg nur von der Partei betrieben werden kann und wir auf die Fraktion nicht werden zählen können. Zumal die auch genug zu tun hat.

Das finde ich gut und ok, sehe aber nicht, dass ich diesen Konflikt und diese Umverteilung der Aufgaben an vorderster Stelle werde führen können - weder von Zeit und Kraft noch von der Konzentration auf Politik her. Darum ist sogar mir, der ich für mein Modell eigentlich plädiere, eine Vorsitzende lieber, die nicht in der Fraktion ist, aber mehr Zeit und Kraft in diese Auseinandersetzung stecken kann.

Ein dritter Punkt spielt mit hinein, ist aber nicht ausschlaggebend, denn der galt auch schon, als ich noch kandidierte: Ich bin für eine Trennung von Amt und Mandat, wenn es auf der gleichen politischen Ebene liegt, in diesem Fall analog zu dem, was unsere Jugend vorschlägt (nicht in allem stimme ich ihnen zu). Bei der Kandidatinnenlage bis eben hieße das, dass ich der einzige Kandidat wäre. Mir geht es bei diesem Thema aber nicht um mich, sondern ich halte es für politisch und strategisch richtiger.

Jetzt überlege ich, ob ich für ein Amt als Beisitzer im Landesvorstand kandidieren werde - oder ob ich mich dieses Mal nicht um ein Amt bewerbe und an anderer Stelle politisch weiter arbeite bei den Grünen. Das habe ich noch nicht entschieden und werde ich zunächst mit meiner Familie ausführlich besprechen. Was ich heute schon sagen kann: Auf absehbare Zeit (also auf Zeit, die ich absehen kann) strebe ich kein Mandat an.

17.10.11

Anna Hellwege, gestorben gestern vor fünf Jahren

Es war das vielleicht einschneidendste Erlebnis meiner beruflichen Laufbahn, als am 16. Oktober 2006 bei uns in der Agentur bekannt wurde, dass Anna Hellwege gestorben ist. Dass sie ermordet wurde, wussten wir noch nicht sofort.

Ich war erst seit zweieinhalb Monaten bei Edelman, wir hatten gerade eine wilde, nicht nur angenehme Zeit hinter uns (mit einem Wal-Mart-Skandal und einer skurrilen Zusammenarbeit mit Technorati, die älteren von euch werden sich erinnern). Es war Unruhe in der Agentur an diesem Montagmorgen, weil es nicht üblich war, dass Anna fehlte, ohne dass sie Bescheid sagte. Sie wohnte direkt um die Ecke. Und im Laufe des Vormittag ging ein Schrei und ein Zusammenbruch durch die Büros. Auch für mich.

Es hat Jahre gedauert, bis wir dieses Erlebnis und diesen Verlust auch nur halbwegs verarbeitet hatten, es hat für sehr lange Zeit sehr viel geändert. Nun bin ich seit zwei Jahren nicht mehr dort, kann es also nicht mehr so wirklich beurteilen, wie es heute nachwirkt, wie es den Kolleginnen von damals an einem Tag wie gestern und heute wirklich geht.

Meine erste Begegnung mit Anna war direkt, als ich in den Hamburger Büros vorgestellt wurde. Sie kam gleich auf mich zu und hat mich herzlich begrüßt und sozusagen an die Hand genommen. Wie wenig selbstverständlich das war, habe ich erst später erfahren, als ich merkte, dass es durchaus Vorbehalte gab, nicht zuletzt, weil ich ein Mann bin (und ich war damals immerhin der einzige fest angestellte Mann im Team).

Leider habe ich nicht direkt mit ihr zusammen gearbeitet. Ich habe sie vor allem bei den Festen und den Agenturmeetings erlebt. Besonders beim immer legendären Agenturausflug kurz vor ihrem Tod, bei dem sie mir einen nur hinter vorgehaltener Hand dann die Runde machenden Spitznamen verpasst hat, bei dem ich immer immer lächelnd an sie denken muss. Und der gerade deshalb nicht in die Öffentlichkeit gehört. Der aber bis zu meinem Ausscheiden bei Edelman immer zu den Erinnerungsstücken, auch den gemeinsamen Erinnerungsstücken, an Anna gehörte.

Meine Erinnerungen und auch meine Trauer wohl sind nichts im Vergleich zu dem, was ihre Freundinnen und langjährigen Kolleginnen haben. und hatten. Und selbst mir fiel es schwer, in den Alltag zurück zu finden, wie viel schwerer wird es anderen gefallen sein. Dem einen oder der anderen werde ich ein kleines bisschen dabei geholfen haben, was mich glücklich gemacht hat. Und dass der beste Prediger und evangelische Priester im Wortsinne, den ich in meinem Leben kennenlernen durfte, der ehemalige Propst Helmer Lehmann, ihre Trauerfeier gestaltete, war gut und wichtig und nicht nur für mich ein wichtiger Schritt auf dem Weg ins Leben zurück.

Noch heute ist Anna Hellwege präsent mit ihrem Lachen und ihrem Lebensmut. Und dafür bin ich ihr bis heute dankbar.

14.10.11

So sollte Netzpolitik in Deutschland aussehen, ja.

Hin und wieder verzweifele ich an "meiner Partei". Wenn Bärbel Höhn im TV auftritt. Oder wenn einige der evangelisch-kirchlichen Bundestagsabgeordneten auf von der Leyens brutale (und geschickte) Zensurbegründungen reinfallen. Oder Fraktionsvorsitzende in Zwergbundesländern Blödsinn reden. Oder bei manchen Diskussion rund um asynchrone Beteiligung und Transparenz in meinem Landesverband.

Aber dann bin ich auch immer wieder glücklich, dass ich bei den Grünen aktiv und politisch beheimatet bin (obwohl meine Herzensheimat ja immer die SPD war, bis die Verzweiflung jedes positive Erlebnis überwog). So wie gerade jetzt mit dem Antrag des Bundesvorstandes zur Netzpolitik für den Novemberparteitag. Maßgeblich vorangetrieben von Malte Spitz, bei dem ich ohnehin sehr froh bin, dass wir ihn haben.

Sehe ich einmal von den etwas verschwurbelten Formulierungen und einzelnen Inkonsistenzen ab, die dadurch zustande kommen, dass da verschiedene Steckenpferde offenbar noch nachträglich eingearbeitet werden mussten, ist er sehr, sehr gut geworden und - trotz seiner Länge - das so ziemlich beste netzpolitische Papier, das ich in Deutschland bisher gelesen habe. Vor allem aber macht dieser Antrag, der zumindest meiner Meinung nach sehr gut die grüne Position beschreibt, deutlich, was die wichtigsten Unterschiede zu den Piraten sind - auf der inhaltlichen Ebene (von der ich auch weiß, dass sie für den Erfolg der Piraten nicht wirklich relevant ist, ja, weil es ein Kulturthema ist und kein politisches, wunderbar illustriert durch ein Detail beim Politbarometer).

Die großen und argumentativ ausführlichen Passagen zu Privatsphäre, Urheberrecht und Infrastrukturpolitik dürften zu einem großen Teil eine andere Position widerspiegeln als Piraten sie haben (was ja auch gut ist) - und sind aus meiner Sicht wichtig und richtig.

Die Schlüsselpassage aber findet sich ziemlich weit hinten im netzpolitischen Leitantrag des grünen Bundesvorstandes, auf Seite 15 von 16:
Netzpolitik tangiert nahezu alle Bereiche unserer Gesellschaft und Politikfelder, Wissenschafts- wie Kulturpolitik, Rechts- wie Innenpolitik, Kinder- wie Jugendpolitik, Wirtschafts- und Verbraucher, Umwelt- wie Arbeitsmarktpolitik – die Aufzählung ließe sich für alle Ressorts durchdeklinieren. Die Netzpolitik ist das große Querschnittsthema unserer Zeit. Das Internet selbst ist für uns nicht nur ein technisches Instrument, sondern eine sozialer Ort, den es für mehr demokratische Mitbestimmung zu nutzen gilt. (Netzpolitischer Antrag)
Dies ist mir auch persönlich sehr wichtig. Darum bin ich weiterhin skeptisch, was Netzpolitik als Bereich angeht. Darum ist mir netzpolitisches Engagement bei dem, was wir Grüne "Fachpolitikerin" nennen, so wichtig: Leute, die bei uns für Medienpolitik, Schulpolitik, Wirtschaftspolitik, Kulturpolitik, Rechtspolitik und so weiter stehen, gucke ich mir auch immer unter dem Aspekt ihrer Kenntnisse des Netzes und ihrer Positionen in der Netzpolitik an. Denn mir ist es wichtiger, dass unsere Wirtschaftspolitikerinnen netzpolitisch zuverlässig sind - als dass wir einen tollen Netzhecht im Parlament haben. Mal etwas holzschnittartig (weshalb ich bei meiner Bewerbung auch nicht so sehr auf das Thema Netzpolitik abgehoben habe als auch das Thema Demokratie).

Die sehr konkreten Punkte, auf die wir Grüne uns selbst verpflichten wollen (wenn der Antrag durchgeht in Kiel), sind über den gesamten Antrag hinweg verstreut. Und nicht immer sind sie mit Handlungsempfehlungen versehen, da muss also noch das eine oder andere operationalisiert werden. Aber wenn wir uns darauf schon mal einigen können, sind wir um Jahre weiter als alle anderen Parteien. Inklusive der Piraten übrigens.

Ist Leistung Arbeit mal Zeit?

Als ich vor über 15 Jahren aus dem Studium in den Beruf ging, hatte ich bereits ein erstes Kind, denn Primus wurde genau während meines Prüfungsmarathons geboren. Vielleicht war ich darum von Anfang an auch etwas sensibler für die Frage, wer wann wo seine Aufgaben und ein bisschen darüber hinaus gemacht hat.

Die Jahre als Journalist und Moderator waren ja ohnehin von unregelmäßigen Arbeitszeiten (und vor allem von einer Sendung am frühen Sonntagmorgen) geprägt, so dass es immer eher darum ging, die Aufgaben und Ideen voranzubringen als auf den Sessel zu pupen.

Später war ich auch in anderen Unternehmen. Auch mal in einem, in dem der eine oder die andere dazu neigte, Leistung als "Arbeit mal Zeit" zu definieren und nicht - physikalisch korrekt - als "Arbeit pro Zeit". Das habe ich nie verstanden. Und nie mitgemacht. Der Abnabelungsprozess begann bei mir, als es nicht möglich war, mal längere Texte und Präsentationen im Café oder zu Hause zu schreiben, sondern ein ruhiger Ort im Büro zu suchen war. Es war nicht der Grund, dass ich da weg ging, aber der Anlass, darüber nachzudenken.

Immer wieder habe ich Unternehmen und Agenturen erlebt, in denen es als Führungsstärke galt, möglichst als erste und als letzte am Schreibtisch zu sitzen. Meine Meinung (und auch Erfahrung inzwischen) ist das glatte Gegenteil: Wer als Führungskraft nicht mit gutem Vorbild vorangeht, ist keine Anführerin. Und gutes Vorbild heißt, dass es atmende Arbeitszeiten und zielführende Arbeitsorte gibt. Auch mal 15, 16 Stunden, wenn es sein muss, aber nicht als Normalzustand. Die Kinder morgens und abends sehen, dafür halt um 21.30 Uhr noch mal Mails schreiben oder über die Präsentation gehen. Den ersten Schultag der Kinder miterleben. Das Wochenende in der Regel als Familienzeit gestalten.

Und eine gewisse Flexibilität. Gerade im hektischen Agenturgeschäft ist es auch mal wichtig, einen längeren Text oder einen längeren Gedanken zu (ver)fassen. Darum schicke ich "meine Leute" immer mal ins Home Office: Sie kommen mit guten Ideen und besserer Laune wieder zurück. Weil sie auch sonst viel arbeiten. Darum ist es ok, wenn "meine Leute" auch am Arbeitsplatz mal einkaufen oder Blogs lesen oder telefonieren. Weil sie auch nicht um sechs das iPhone fallen lassen, sondern in der U-Bahn, im Café oder auf dem Sofa noch für ihre Communitys da sind oder für die Entwickler oder die Kolleginnen oder Kunden. Wie mein Boss es sagt:

13.10.11

Ich will doch wohl nicht schmarotzen

Ich will gar nichts vom Amt. Ich will nur bestätigen, dass ich bereit wäre, für die Kosten aufzukommen, falls unsere Freundin A. wider Erwarten goldene Löffel klaut und ans andere Ende der Welt abgeschoben werden muss. Oder sie, falls sie zu verhungern droht oder aus anderen Gründen dem Staat auf die Tasche geraten könnte, zu füttern. Also will ich dem Staat helfen. Was ich gerne tue. Denn ich mag diesen Staat irgendwie. Und A. sowieso. Und dass sie nun endlich hier studieren darf und Lehrerin werden, finde ich super.

Zuletzt habe ich ja vor etwa einem Jahr über die Wirrungen der Ausländerbürokratie geschrieben. Es ist schlimmer geworden. Dabei dachte ich, ich bin mal ganz schlau. In den Tiefen meiner Mailbox habe ich noch die Adresse einer Mitarbeiterin im für mich zuständigen Ausländeramt. Die frage ich mal, ob und wie es geht. Und die nimmt mir auch gleich jeden Mut (wofür sie persönlich nichts kann). Denn die neuen elektronischen Aufenthaltstitel haben alles viel komplizierter gemacht, irre lange Wartezeiten, sehr früh müsse man kommen, denn die Wartenummern für einen Tag sind sehr schnell vergeben. Nein, einen Termin dürfe sie mir nicht geben, leider, tut ihr leid.

Ich also hin. 200 Leute im Foyer des Bezirksamtes. Am Tresen erklärt mir ein Mitarbeiter ohne jede Zweifelsfalte auf der Stirn, dass ich ohnehin ins Einwohneramt müsse. Nein, nein, er habe da jahrelang gearbeitet, das stimme, ich sei falsch informiert. Offenbar hatte er noch nie von Verpflichtungserklärungen gehört, die für länger als drei Monate gelten sollen und nicht der Familienzusammenführung dienen. Er hat übrigens (selbstverständlich) nicht Recht mit seiner Auskunft, das aber nur am Rande, ich hab mich ja auch nicht drauf verlassen, denn ich bin ja Profi. Und habe selbst recherchiert.

Prognostizierte Wartezeit, um in Zimmer 5 eine Wartenummer (!) zu bekommen, die vielleicht bis 16 Uhr (es war 7:45 Uhr) dran kommen könnte: Minimum 30 Minuten, eher länger. Bis 16 Uhr allerdings kann ich nicht warten, denn ich kann mir keinen Tag frei nehmen zurzeit, ich will nämlich nicht schmarotzen.

Neben allen grundsätzlichen Zweifeln am Ausländerrecht und der Ausländerbürokratie (beispielsweise dass junge Menschen in die Schwarzarbeit getrieben werden, beispielsweise wie teilweise der Tonfall ist und so weiter) ärgert mich diese nun langsam unendliche Geschichte sehr:
  • Ich will eine Erklärung abgeben, die sehr klar geregelt ist. Dazu muss ich nachweisen, dass ich mir A. "leisten" könnte, dass also meine wirtschaftliche Situation dazu angetan ist, anzunehmen, dass ich ihr das Essen bezahlen könnte, wenn es hart auf hart kommt. Könnte man zur Not aus meinen Steuerdaten ablesen, kann ich jedenfalls nachweisen.
  • Dazu kann ich nicht etwa, wie für alle anderen Behördendingens, in eine für mich bequem erreichbare Dienststelle gehen (ob in Volksdorf oder in Eimsbüttel), sondern muss in die chronisch unterbesetzte, selten öffnende Ausländerabteilung meines Bezirksamtes.
  • Aber obwohl ich - und so eine Erklärung habe ich bereits für Au Pairs abgegeben - für diesen Akt maximal 6 Minuten brauche, die planbar und prognostizierbar sind, kann ich dafür keinen Termin bekommen, sondern muss mich mit denen anstellen, die seit Wochen versuchen, ihren Aufenthaltstitel zu verlängern (was auch unwürdig ist übrigens).
  • Was ich zu tun habe und wo ich welches Formular bekomme, ist für nicht ganz so erfahrene und onlinesichere Zeitgenossen nahezu unmöglich zu erfahren.
(Und dass - als Treppenwitz des Ganzen - dann auch noch umstritten ist, ob diese Erklärung dann überhaupt notwendig sei, macht es noch absurder. Denn die Sachbearbeiter in den Bezirken sind unterschiedlicher Meinung, ob A. von mir eine solche braucht, da sie vom letzten Visum eine hat, die damals von einer Dorfbehörde in Schläfrig-Holstein leicht falsch ausgefüllt wurde - ohne Ablaufdatum und Zweckbindung -, so dass sie eigentlich gar nicht hätte anerkannt werden können, nun aber im Prinzip unendlich lange gültig ist, weil sie jemand ins System eingetragen hat.)

Vielleicht sollten wir A. adoptieren. Oder ist das bei einer, deren Eltern keinen deutschen Schäferhund hatten, auch nicht möglich?