24.11.11

Der Rechten Rache an Gramsci

Für jeden, der sich mit linker politischer Theorie und/oder Praxis beschäftigt, ist Gramsci ein Begriff. Nach etwa 1992 (meine Schätzung) wurde er vor allem für die Rechtsradikalen in Deutschland wichtig. Im Grunde haben sie das, was Gramsci rund um Hegemonie formulierte, konsequent umgesetzt. Das hat mich am Anfang verzweifeln lassen und dann irgendwann wütend gemacht. Ändern konnte ich es so wenig wie die wenigen, die es damals schon sahen, gehört wurden.

Ich verlinke hier nicht die verschwurbelten Artikel, die angefasste Jenaer gerade schreiben, die keine Nazis sind (was ich glaube). Die aber in vielen - ich hoffe: unbewussten - Formulierungen und Argumentationsmustern zeigen, wie sehr die Gramsci-Rezeption und -Adaption der Rechtsradikalen Früchte getragen hat (Aber ihr findet einige Beispiele bei Erik im Blog, der im Übrigen besser als ich zusammen fasst, warum sich einige von uns so aufregen über die Naiven).

Wenn dann naiv und unbewusst von "falschen Freundeskreisen", die Erik oder ich haben könnten, geschwurbelt wird. Oder wenn die sozial geächtete Selbsttötung durch Drogenkonsum mit der durch Wegschauen der Mehrheit ermöglichten Tötung oder Vertreibung von anders Aussehenden enggeführt wird. Dann ist das die Rache der Rechten an Gramsci.

In meinem Bekanntenkreis und in meiner Familie gibt es Menschen, die aus Erfahrung - und nicht etwa aus Vorurteilen - nicht mehr in "den Osten" fahren, ohne sich im Schutz großer Gruppen zu befinden (oder sich zu bewaffnen). Und auch wenn es Nazis auch im Westen gibt und ich an der Haltung vieler junger Leute, die ich am Niederrhein* oder sonstwo kenne, eine Menge auszusetzen habe, ist das doch anders - sehr anders - als in jedem Dorf im Osten, das ich erlebte oder von dem mir Menschen mit aus Nazisicht normabweichendem Äußeren berichten. Oder ganz konkret: ein Punk kann in der mir persönlich wirklich nicht angenehmen niederrheinischen Provinz leben. In Mecklenburg oder Thüringen nicht.

Die sprachliche und kulturelle Hegemonie der Rechtsradikalen in der nachwachsenden Generation ist im Osten, das zeigen auch alle Studien, die es dazu gibt (ein Teil ist in der letzten Zeit erwähnt, ansonsten mal nach Toralf Staut googlen), weiter fortgeschritten als im Westen.

Die Angst der Menschen, die den Osten als No Go Area erleben, liegt eben gerade nicht an den Nazis, denn die, da haben die hegemonisierten Naiven Recht, gibt es überall. Die Angst kommt daher, dass dort nicht die Nazis sondern die anderen latent als "falsche Freundeskreise" gelten.

Es geht dabei nicht "gegen den Osten" oder um Vorurteile - sondern darum, dass eine bewusste Strategie der Rechtsextremen, der Nazis, aufgegangen ist, die sich ab Anfang der 90er "den Osten" ausgesucht haben, weil sie sahen, dass es da einfacher für sie ist, aus verschiedenen Gründen, die bekannt sind (Geschichte, soziale Situation, weniger äußerliche Abweichung als im Westen etc). Und die Geschichtsvergessenheit und mangelnde sprachliche Bildung (was kein Vorwurf ist, sondern schade) führt dann bei Menschen auch höherer formaler Bildungsabschlüsse allzu oft dazu, dass sie die sehr geschickten Hegemonieversuche der Nazis nicht bemerken, nicht sehen und die entsprechenden Codes einsickern. Trifft diese Hegemonie dann auf ehrenamtliches Engagement von Nazis in einer Gegend, in der es keine Kirchen und AWO etc gibt, ist der Schaden angerichtet und kann nicht von einigen Helden (die es auch in Jena gibt) aufgefangen werden. Und von den Helden habe ich übrigens auch keine verschwurbelten Proteste gehört. Nur von denen mit dem gesunden Volksempfinden. Und mit (Lokal-) Patriotismus.

* Steht hier pars pro toto für die vom Osten so weit wie möglich entfernte westdeutsche Provinz. Und vielleicht auch deshalb, weil ich dort Jugendliche und Punks kenne...

21.11.11

Wie soll es weitergehen mit unserem Podcast brouhaha?

Ich bin da wirklich nicht ganz sicher. Einerseits finde ich ja, dass Alex Wunschel und ich mit Brouhaha einen irgendwie netten Podcast zusammen haben, auf den ich auch oft angesprochen werde (vor allem, wenn - wie dieses Mal wieder einmal - die neue Folge monatelang auf sich warten lässt). Andererseits hat sich die Idee, #megafails (oder wie immer man die Fehler von Kommunikatoren und Unternehmen in Social Media nennen will) zu analysieren und wunderbar arrogant zu sagen, was sie hätten besser machen können, ein bisschen tot gelaufen, finde ich - vielleicht auch, weil es kaum noch so richtige Brüller gibt? Oder weil sie mich nicht mehr so interessieren? Oder weil der eigentliche Hammer eher ist, wenn Weltmarken mit ihren Netzwerkagenturen oder Medienfachmagazine Dinge auf Facebook machen, die an drei bis sieben Stellen gegen die Nutzungsbedingungen verstoßen (vom guten Ton und so mal ganz zu schweigen)?

Was denkt ihr, wie wir weiter machen sollten (denn eigentlich sind wir so sehr waldorfstatlermäßig gut drauf, dass wir auf jeden Fall weiter machen wollen)?

So lange, bis ihr diese Frage beantwortet habt, erstmal noch die aktuelle Folge über Schlecker und die lingua franca.





Download MP3 (30:35; 21MB), oder auch Abo bei itunes...

18.11.11

Missverständnisse zu Google Plus

Das große Grundmissverständnis rund um Google+ beschrieb diese Woche Martin Weigert auf netzwertig.com - sein Artikel ist im Grunde sogar die Illustration dieses Missverständnisses, weil er meines Erachtens von falschen Voraussetzungen ausgeht und deshalb - logischerweise - die falschen Schlüsse zieht:
Mit dem Start von Google+ kämpfen nun drei führende, auf die Masse der Nutzer ausgerichtete und sich im Funktionsumfang überschneide Social-Web-Plattformen um die Aufmerksamkeit der Nutzer.
Genau das scheint mir nur auf der Oberfläche zu stimmen. Nicht aber im Kern. Genau diese Einleitung - auf der seine in sich schlüssige Schlussfolgerung beruht, Google+ sei also überflüssig - sehe ich vollständig anders.

Zum einen - das habe ich ja damals schon geschrieben - sehe ich tatsächlich großes Potenzial bei Normalnutzern für Google+ (während Martin Weigert sich auf die Social-Media-Aktivisten in seinem Umfeld bezieht in seiner Wahrnehmung). Und zum anderen geht es, denke ich, im Kern bei Google+ nicht um ein Netzwerk. Sondern um Homepages und Profile, die mit zurzeit nun einmal geforderten sozialen Interaktionsmöglichkeiten aufgepeppt werden. Und im Übrigen denke ich, dass Markus Breuer Recht mit seiner Einschätzung, die ich zur gefälligen Lektüre noch einmal empfehle: Google+, Direct Connect und die neue Google-Strategie.

Schaue ich mir Profile und Firmen/Marken-Seiten bei Google+ zurzeit an und überlege, was daraus im Kontext des Modells Google werden kann, so denke ich eher, dass es um eine Art Geocities gehen wird. Ihr erinnert euch? So blinkende, gelb-neonfarbene Schröbbelseiten für jeden und alles lange bevor Blogs und Homepagebaukästen da waren.

Die Verknüpfung mit Google Direct, mit Google Maps und dann auch mit Bezahldiensten und so weiter werden Google+ zu dem Weg werden lassen, eine quasi verifizierte Visitenkarte im Web abzulegen. Dass dies dann auch noch eine Kommunikationszentrale sein kann, ein Newslettertool (Kreise) und so weiter, macht es nur runder.

Nur wenn wir uns von der Folie Netzwerk und Facebook lösen, werden wir eine Chance haben, Google+ überhaupt zu verstehen.

15.11.11

Das vorletzte Signal

Die guten meiner Kindheit und Jugend gehen alle. So ist das, wenn man selbst auch älter wird. Jetzt also der Degenhardt. War das eine Eilmeldung der Tagesschau wert? Ja, das war es. Ist es traurig? Weiß nicht, denn erstmal bin ich dankbar, dass es ihn gab.

Ich kannte ihn nicht persönlich, er war auch nicht einer von denen, die ich regelmäßig hörte. Aber er gehörte dazu. Für mich wie Erich Fried, wie Dorothee Sölle, wie Alfred Schulz. Die ich alle gut kannte und die auch alle tot sind. Irgendwie gehörte er in diese Reihe. Wahrscheinlich bin ich einer der Jüngsten, die noch wissen, wer er war und was er war und warum er für uns wichtig war. Der Zornige, Wilde, Einfache unter den Mutmachern.



Und Dem Scholz bin ich dankbar für dieses Lied und dieses Video. Nach so etwas habe ich den ganzen Tag unbewusst und im Hinterkopf gesucht. Denn ich wollte nicht den Gassenhauer bringen.

10.11.11

No fomo*

Es gibt Dinge, vor denen ich Angst habe. Es gibt Zeiten, zu denen ich besorgt bin. Und es gibt Situationen, in denen ich gestresst bin, manchmal sogar sehr gestresst. Das hätte ich früher nicht gedacht.

Aber witzigerweise stresst mich weder online sein, noch offline sein. Bin ich nicht besorgt, ich könnte was verpassen, wenn ich beispielsweise mit meinen Kindern spiele, schwimme oder reite oder so. Habe ich keine Angst, in den unendlichen Weiten des Internet zu ersaufen.

Angeblich gibt es einen Trend, auch mal offline zu sein. Also so bewusst. Oder Orte offline zu machen. Weil da das Internet mit seinem Stress des Alwaysondingens nicht geht. Und angeblich komme der zustande, weil Menschen vom ewigen Onlinesein eben gerade dies seien: gestresst, ausgelaugt und so weiter.

Weder den Trend noch seine Ursachen will und kann ich bestreiten. Ich kann es nur nicht nachvollziehen. Und finde es latent überflüssig.

Vor allem aber denke ich mehr und mehr, dass dies ein Phänomen des Übergangs ist. Dass es Menschen betrifft, die - bewusst oder unbewusst - einer alten Zeit ohne permanente mindestens theoretische Verfügbarkeit von Information und Informationsmöglichkeit nachtrauern.

Ohne in Vulärpsychologie verfallen zu wollen, kann doch dieses "fomo"* eigentlich nur haben, wer tatsächlich glaubt, eine Chance zu haben, alles oder das meiste mitzubekommen. Wer aber erstmal Schwimmübungen im ewig fließenden Strom von Infos und Updates beginnt, merkt fast sofort, dass es leichter ist, zu schwimmen, als an einer Stelle zu stehen und zu versuchen, alle Tropfen, die vorbei fließen, zu sehen.

Mit dem Strom des Onlineseins ist es wie mit dem Regen. Wenn ich nass und kalt nach Hause jam, sagte mein Vater immer: "Das Gute am Regen ist ja: das meiste geht an dir vorbei."

Der Unterschied zu früher ist ja vor allem, dass ich mir nicht mehr vormachen kann, 24 Bände Brockhaus im Regal würden alles Wissen bergen.

Stress entsteht nicht nur aber oft durch Kontrollverlust oder die Angst davor. Im Wissen, dass ich ohnehin fast alles verpasse, auch wenn ich online bin, brauche ich weder eine explizite Offlinezeit noch werde ich kribbelig, wenn ich off bin. Denn irgendwann bin ich ja wieder on.

Interessanterweise erlebe ich bei meinen Kindern und ihren Freundinnen, dass sie kein fomo* haben. Und nicht mal eine Internetflat für ihr Smartphone brauchen. Denn sie sind ja nicht offline oder machen Internetdiät. Sondern sind halt mal on und mal off. Sie sind erwachsener als die meisten Erwachsenen um mich herum. Allerdings (leider oder glücklicherweise) nur in diesem Bereich.


* fomo = fear of missing out

2.11.11

Liebe Neo-Sozialisten in den Vorstandsetagen,

liebe Kampagnenjournalistinnen, liebe Spielerinnen im Casino Deutsche Börse, ihr habt es geschafft, mich erfolgreich zu re-radikalisieren.

Nun ist das Fass übergelaufen. Wenn ihr mit Zorn, Flucht, Häme und Drohungen auf Demokratie reagiert, stellt ihr euch außerhalb einer Zivilisation, die diesen Namen verdient. Wenn ihr nur ein Jahr, nachdem wir euch gerettet haben, Riesengewinne macht und trotzdem fordert, Risiken zu sozialisieren, dann seid ihr keine Leistungsträger sondern Bewohner der Hängematte, in der zu liegen ihr denen vorwerft, die euch füttern. Wenn ihr von uns fordert, euer gescheitertes Geschäftsmodell unter Artenschutz zu stellen und euch zu bezahlen, weil ihr staatstragend seid, und dann Kampagnen gegen die Hände führt, die ihr gereicht haben wollt, dann seid ihr Lügenpack.

Ich war in dieser Gesellschaft angekommen. Verdiene gut, habe viele Kinder, so wie einige von euch. Ich hatte der Revolution schon lange abgeschworen. Ich zahlte gerne Steuern.

Ihr aber habt es geschafft. Ihr habt den Liberalismus und den Ausgleich der Interessen getötet. Ihr habt neue Frontlinien gezogen. Ihr wollt offenbar beweisen, dass die Recht haben, die sagen, dass es keine Versöhnung zwischen oben und unten geben kann.

Wir in der Mittelschicht, gerade auch wir in der oberen Mittelschicht werden von euch vor die Entscheidung gestellt, wohin wir gehören. Und ich habe mich entschieden. Denn zu euch gehöre ich nicht. Und für euch werde ich mich nicht mehr schämen.

Wir sehen uns auf den Barrikaden.

(Sound of the day: Green Day für den Zorn. Und Bruce Springsteen für die Hoffnung)
(und weil die Frage kam: Anlass, nicht aber Ursache, für diesen Text sind die Reaktionen auf die Ankündigung des Referendums in Griechenland)