2.8.11

Wenn es einen Sinn haben soll

Heute wäre meine Mutter 65 Jahre jung geworden. Und auch wenn hätte, würde, sollte immer doof ist, hätte sie das schaffen können, wenn sie nicht so große Angst vor der Krankheit gehabt hätte, die sie so früh in die Nacht geführt hat.

Denn meine Mutter hatte Alzheimer. Die frühe Form, die vor allem bei Frauen vorkommt, familiär gehäuft (also möglicherweise mit einer Disposition verbunden ist), und ähnlich schlecht behandelbar wie alle diese Demenzerkrankungen. Oder eben ähnlich gut.

Was so tragisch war: Wir haben recht früh schon mit ihr über unseren Verdacht gesprochen, haben sie gebeten, Alzheimer ausschließen zu lassen. Das hat sie sehr verletzt. Denn so lange sie noch sprechen konnte, ist dieses Wort nicht über ihre Lippen gekommen. Gegen Ende ist sie immer in Tränen ausgebrochen, wenn wir es benutzt haben. Jahre, nachdem sie erstmals beim Neurologen war, vor allem um das andere, was als Drohung im Raum stand, einen Tumor, auszuschließen, ist es erst diagnostiziert worden. Nach dem ersten Gang zum Facharzt ist sie nicht mehr hingegangen, hat sie MRT- oder Röntgenbilder nicht mit ihm besprochen. Als sie dann wieder hinging, unfreiwillig, mehrere Jahre später, und der Arzt die Bilder von damals sah, wurde er blass. Denn da sah man schon, was am Entstehen gewesen war. Jahre vorher. Es sei ihm damals durchgerutscht. Und sie sei ja nicht gekommen.

Das Tragische an Demenzerkrankungen ist, dass die Patienten als erstes merken, dass etwas nicht stimmt. Dass die sich mehr als sonst anstrengen müssen, um dabei zu sein, um weiterhin ansprechbar zu bleiben, um sie selbst zu sein. Und sicher nicht nur für meine Mutter war es etwas, das sie nicht wahrhaben wollte. Denn sie hat ihr ganzes Leben dafür gekämpft, unabhängig zu sein. Hat immer damit gehadert, dass sie nicht Abitur machen durfte, nicht das lernen durfte, was sie wollte, nicht berufstätig war, nicht eigentlich unabhängig. Sie hat sich durch ihre Intelligenz definiert, durch ihre Ehrenämter, teilweise, denke ich, durch meine Erfolge in der Schule. Aber gerade die Intelligenz ging verloren. Das war eine Verletzung, der sie sich nicht stellen konnte, für die ihre Kraft nicht reichte.

Wenn, wenn, wenn.

Aber dennoch: Wenn sie damals, als sie es merkte, oder wenigstens damals, als wir anfingen, es zu merken und Fragen zu stellen, gegen gesteuert hätte, mit Training, mit Medikamenten, dann könnte sie noch leben. So weit sind wir heute immerhin.

Ich habe mir vorgenommen, achtsamer mit so etwas zu sein. Mich der Angst zu stellen, wenn es sein muss. Ob mir das gelingen wird, weiß ich nicht, denn ich gehe auch nicht gern zum Arzt. Wer tut das schon.

Und ich habe einen sehr, sehr großen Respekt vor einem Menschen in meinem Umfeld, der sich, ohne allzu offensichtliche Symptome bisher, der Frage gestellt hat, ob er Parkinson hat. Und nun, nach der sehr frühen Diagnose, gegensteuert.

Das Schicksal meiner Mutter, das wäre mir wichtig, sollte andere ermutigen, genau dieses zu tun. Es hilft ihr nicht mehr. Und es hilft auch uns nicht, dass wir uns fragen, ob wir sie damals mehr hätten bedrängen sollen. Sie war schon so wahnsinnig verletzt über das, was ich zu ihr gesagt habe, wie ich später in Notizen von ihr gelesen habe.

Heute wäre sie 65 Jahre jung geworden. Sie war nur wenige Jahre älter als ich heute, als es bei ihr losging mit Alzheimer. Ich vermisse sie immer noch.

1 Kommentar:

  1. Es tut mir so leid, dass du sie so früh verloren hast - mehrfach.

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