8.2.11

Unsere beste Entscheidung

Dass Secundus vor fast genau zwei Jahren vom Gymnasium auf die Stadtteilschule (damals noch Gesamtschule) gewechselt ist, war eine der besten Entscheidungen, die wir je getroffen haben. Und weil ja jetzt sowohl bei den Freunden, die Kinder in der vierten Klasse haben, als auch bei einigen, die ihre Kinder in der sechsten Klasse eines Gymnasiums haben, eine ähnliche Entscheidung ansteht, freue ich mich über den ersten guten Abendblattartikel zum Thema Schule seit Jahren. An einem individuellen Fall wird eine Erfahrung geschildert, die wir kennen. Und zu der wir viele, viele andere Familien kennen, die es genau so auch erlebt haben. Vor allem der Schlussfolgerung der Autorin Claudia Eicke-Diekmann kann ich nur vollen Herzens zustimmen:
Ein Indiz ist das Halbjahreszeugnis in Klasse 6, das vor einer guten Woche ausgeteilt wurde. Ein Schulwechsel ist auch während des Schuljahres möglich. Dafür reicht ein formloser Antrag an die Schulbehörde. Die Garantie auf den Platz an der Wunschschule gibt es auch dann nicht, aber der Übergang ist dann freundlicher für die Kinderseele. Abgeschult - und wohin dann?
Ich war jahrelang ein nur theoretischer Anhänger der Gesamtschule. Schon immer. Und immer mit der Einschränkung, dass ich meinte, die Gesamtschule kann neben dem viergliedrigen Schulsystem nicht wirklich bestehen. Der Trend zu einem neuen Schulsystem aus Sonderschulen, Stadtteilschule, die zum Abitur führt, und Gymnasium - der sich ja nicht nur in Hamburg niederschlägt sondern auch in anderen Ländern - hat nun der alten Gesamtschulidee neue Kraft gegeben.

Ich bin ja im Elternrat (Elternmitbestimmung) eines Gymnasiums aktiv, habe ein Kind in der Grundschule und eines auf der Stadtteilschule. Und sehe heute, dass für die allermeisten Kinder die Stadtteilschule die mit Abstand bessere Wahl ist. Eltern, die ihre Kinder aufs Gymnasium schicken, müssen wissen, was sie ihren Kindern damit antun. Beispielsweise könnte nahezu jede Stadtteilschule in Hamburg im Verlauf von Klasse sechs mindestens eine weitere Klasse aufmachen allein aus männlichen "Gymnasialrückläufern". Das Problem in fast allen mir bekannten Fällen: Die zweite Fremdsprache am Beginn von Klasse sechs.

Aufgrund der (nun noch einmal durch die Hamburger Schulinspektion neutral nachgewiesenen) schlechteren Unterrichtsqualität an Gymnasien, die sich vor allem in unterentwickelter didaktischer Vielfalt und in schwach ausgeprägter Bereitschaft vieler Lehrerinnen äußert, anzuerkennen, dass nicht alle Kinder mit Beginn von Klasse fünf bereits selbstständig lernen können, scheitern zunehmend Kinder daran, dass wie aus dem Nichts in Klasse sechs das Tempo angezogen wird und nur ein Jahr, nachdem die erste Fremdsprache aus einem eher spielerischen Umgang in ein "echtes" Fach umgewandelt wurde, bereits die zweite Fremdsprache dazu kommt. Ich habe bei einer großen Menge von Kindern erlebt, dass sie schon in den ersten Wochen hier den Anschluss verloren haben, ohne dass die Sprachlehrenden das rechtzeitig merkten. Ähnlich berichten mir das Stadtteilschullehrende, die diese Kinder dann auffangen und - glücklicherweise - zu neuer Blüte führen.

Ähnlich wie in dem Fall im Abendblatt war für Secundus der Wechsel - im laufenden sechsten Schuljahr übrigens - ein Segen. Er ist heute so gut wie noch nie in der Schule, hat für sich eine Perspektive entwickelt, hat einen anspruchsvollen Berufswunsch, ist mit seinen Begabungen und seinen Schwächen gut aufgehoben, wechselt jetzt zum Halbjahr sogar in einem seiner traditionellen "Problemfächer" in den starken Kurs. Er selbst wollte diesen Schulwechsel, um mehr Zeit für das Ziel Abitur zu haben. Und um mehr Freiraum für Bewegung, Sport, Hobby zu haben, der durch die Unterrichtsverdichtung am Gymnasium zu kurz zu kommen begann. Und dass sein Klassenkollegium am Gymnasium zum ersten Mal gemeinsam zusammen kam, um über ihn zu sprechen, als wir um ein Gespräch baten und sie uns vom Schulwechsel abhalten wollten, sagt ein Übriges.

Wenn zugleich an Primus' Schule (Gymnasium) der ehemalige Mittelstufenleiter mehr oder weniger offen davon redet, dass durch die aus seiner Sicht offenbar unsägliche Schulreform (hier: kein Sitzenbleiben, kein Abschulen in der Mittelstufe) eben am Ende von Klasse sechs massiv "gesiebt" werden müsse, ist meine Empfehlung klar: Das Gymnasium ist nicht nur die reformbedürftigste Schulform in Hamburg - sondern auch die, die nicht erste Wahl sein sollte, wenn ich ein Kind habe, dass normal- bis leicht höherbegabt ist. Ich erlebe zurzeit kein Gymnasium, das mit dem pubertären Durchhänger in den Klassen neun und zehn angemessen umzugehen in der Lage ist. Keins, das bereits hinreichend mit zeitgemäßen Unterrichtsmethoden vertraut wäre oder gar in Teams arbeitete. Keins, das ich wirklich empfehlen kann. Ja, ich kenne nicht viele Gymnasien, sondern nur die, auf die Kinder von Freunden gehen oder an denen Freunde unterrichten. Aber in dieser Stichprobe ist das Ergebnis verheerend.

Dass es keine weiterführende Schule jenseits der Sonderschulen in Hamburg mehr gibt, die nicht zum Abitur führt, dass also jeder Schulabschluss an jeder Schule möglich ist, finde ich toll. Und das sollte Eltern die Entscheidung erleichtern, ob sie ihren Kinden eine halbwegs gute Schullaufbahn gönnen oder ob sie sie wirklich der Hektik des G8 aussetzen wollen. Ich teste beides. Und obwohl Primus weiterhin gut in der Schule ist und erfolgreich, ist die Entscheidung für die Stadtteilschule bei Secundus die beste unseres Lebens gewesen. Und ich bin sehr unsicher, wie wir es bei Tertius im kommenden Jahr machen werden, obwohl er sich gerade wie ein "Überflieger" zu bewähren scheint.

Warum ich für die schwarz-grüne Regierung der letzten Jahre in diesem Zusammenhang dankbar bin: Sie hat die Gymnasien unter Reformdruck gesetzt, dem sie sich durch die Reform des Schulgesetzes nicht mehr entziehen können. Und sie hat in meinem Umfeld die Stadtteilschule "hoffähig" gemacht. Dieser Mut und dieser Schritt war - davon bin ich überzeugt - nur in einem lagerübergreifenden Regierungsbündnis möglich. Und gut und wichtig, selbst um den Preis, dass nun Olaf Scholz droht.

Update 22.00
Und noch ein Einzelfall, der ähnliche Erfahrungen macht wie wir, noch radikaler fast, in Harburg, heute in der Mopo.

Update 15.2.
Und noch ein kurzes Update, weil mir die Schulleiterin an Primus' Gymnasium etwas leicht missgelaunt vorhielt, die erwarte von ihren Elternvertretern, dass sie auch die positiven Seiten darstellten, und ich ihr flapsig antwortete, dass ich das durchaus getan habe. Mir geht es nicht um die konkrete Schule, auch wenn ich da besonders viel zu kritisieren habe, tatsächlich alles Positive, was mir zum konkreten Zusammenhang dieses Blogposts einfiel, geschrieben habe (nämlich nichts). Beide großen Söhne haben gute und schlechte Lehrer (oder das, was ich jeweils dafür halte). Und selbstverständlich gibt es auch an Gymnasien Lehrerinnen, die sich anstrengen, modernen und zeitgemäßen und auf der Höhe des pädagogischen Wissens angesiedelten Unterricht zu machen. Und auch an Stadtteilschulen solche, die es sich bequem machen und seit zwanzig Jahren nicht weiter entwickelt haben. Was ich aber merke, ist, dass die Organisationsform Stadtteilschule offenbar hilft, diese Schwächen besser auszugleichen. Und dass dort nicht so viel grundsätzlich im Argen liegt wie an Gymnasien.

Dass Primus den jeweils besten und schlechtesten Lehrer aus meiner eigenen (!) Schulzeit an seiner Schule nun aktuell auch im Unterricht hat, ist dabei ebenso ein weiterer Treppenwitz wie die Erkenntnis, dass ich damals mit meiner Bewertung wohl ganz gut lag.

3 Kommentare:

  1. bis auf den letzten satz fand ich deinen artikel mal so richtig interessant und gut.

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  2. Scholz & Friends in action, wie? ;)
    Im Ernst: Das Lob höre ich gerne, mit dem Tadel kann ich leben. Denn ein großartiger Wahlkampf (ja ja) macht mir den Olaf Scholz nicht vertrauenswürdiger (Brechmitteleinsatz etc) und sympathischer. So sehr ich dich und auch seinen Bruder mag.

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  3. Anonym15.2.11

    Die Schulleiterin muss halt verstehen, dass deine Kritik nicht gegen das eine, sondern gegen das System Gymnasium geht.

    Auch für einen Westfalen sehr interessant. Hoffentlich bewegt sich hier auch mal was in der Schullandschaft. Die ersten Projekte starten ja bald.

    Schön, dass die Grünen in der Schulfrage langsam was bewegen!

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