11.11.04

Wertebestimmung

Nachdem sich der westliche Liberalismus allmählich vom Schock des zweiten November erholt, nehme ich zwei Reaktionsvarianten wahr: Auf der einen Seite die Fassungs- und Verständnislosigkeit für das, was da passiert ist. Und auf der anderen das ernsthafte Nachdenken, was es bedeuten kann. Religion spielt dabei eine Rolle. Das finde ich gut, denn es ist sicher ein besserer Schlüssel als anzunehmen, dass Korruption für Amerikaner ok sei.

In der aktuellen Zeit stellt Bernd Ulrich die richtigen Fragen - und nicht nur das: Er bezieht auch die eine oder andere Position. Vor allem den Verächtern der Religion schreibt er doch recht deutlich ins Stammbuch, was er von dem in historischer Perspektive geradezu marginalen Pseudotrend der Entreligionisierung hält:

Die wichtigsten geistigen Kämpfe unserer Zeit finden nicht zwischen Atheismus und Religion, sondern zwischen verschiedenen Glaubensrichtungen statt. Wenn Europa hier eine wichtige Rolle spielen will, dann muss es sein liberales Christentum pflegen und seinen Beitrag zu einer Demokratisierung des Islam leisten. Insofern war die Ablehnung Buttigliones ein zwiespältiges, der Verzicht auf den Gottesbezug in der EU-Verfassung ein historisch falsches Signal.

Das ist auch deshalb spannend, weil schon letzte Woche für mich zunächst überraschend und dann aber in der Konsequenz überzeugend in der Zeit die Buttiglione-Entscheidung massiv kritisiert wurde (Artikel von Jan Ross leider nicht online) - als im Grunde ähnlich fundamentalistisch wie der Bushismus, weil Religion politisiert wird. Diese Nachdenklichkeit ist in einer liberalen Zeitung ja eher überraschend. Passt aber andererseits in die geschickte Positionierung der Zeit in der neuen nachdenklichen Bürgerlichkeit, wie sie beispielsweise Heinz Bude latent irritiert feststellt.

Ähnliches Nachdenken zieht sich durch viele Artikel diese Woche. Ob Thomas Kleine-Brockhoff, den ich immer gerne lese, über die Debatte bei den Demokraten schreibt, im Feuilleton Jörg Lau nicht online verfügbar beschreibt Wie amerikanische Intellektuelle Bushs Sieg interpretieren oder auf der selben Seite der US-Soziologe Mike Davis das Lebensgefühl beschreibt, das uns sicher teilweise fremd ist (obwohl ich mich allem Amusement zum Trotz auch nicht durch den Sex and the City-Lebensstil angesprochen fühle). Irgendwie trifft die Grundrichtung der Zeit zurzeit mein Denken und Fühlen.

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